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Geschrieben von solelo am 15.11.2006, 12:54 Uhr

Flügelschlag

Na... ich will es doch noch Mal hier veröffentlichen:

Flügelschlag
Johanna, 09.11.2006
aus: www.unerzogen.de

Heute musste ich eine der schlimmsten Erfahrungen meines Lebens machen. Ich bin aufgewacht mit einem Tier im Ohr!!! Es war so schlimm!!! Mein Ohr juckte, ich kratzte es auf meine ganz eigene Art (ich nehme meinen kleinen Finger, ganz steif waagerecht hinein und zappele mit diesem auf und ab ganz schnell). Das Jucken hörte nicht auf, dann hörte ich Flügelschläge. Es war Horror. Mein schlimmster Albtraum, befürchtet seit meiner Kindheit, als ich das erste Mal von “Ohrwürmern” gehört hatte.

Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie furchtbar das war. Es hat immer wieder gezappelt und geflattert, für mich ganz unerträglich laut. Und die Vorstellung allein war so schlimm. Und es war noch nicht Mal nur eine Vorstellung! Es WAR ja drin! Ich hab geheult wie ein kleines Kind und wurde hysterisch jedes Mal, wenn es wieder flatterte.

Ein Glück war es nicht mitten in der Nacht, sondern so um 6:59. Ich suchte einen HNO-Arzt im Internet und fand einen in meiner Nähe. Heulend rief ich an, und zum Glück war schon jemand da. “Beruhigen Sie sich doch, es kann ja nur eine Mücke oder eine Fliege sein oder so” BuhUhhUHUhhuhu!!! Ich habe noch darum gebeten, mich nicht warten zu lassen “Ja, ja, natürlich”...

Alle waren wach geworden, meine Tochter schrie “So was will ich gar nicht wissen, wie furchtbar, nein” – Ich bei jedem Flattern in die Knie “Oh Goooottt, hör auf, geh raus, es soll aufhören!!”. Ich war wie eine Verrückte und verhielt mich wie eine Drogenabhängige auf Entzug! Ich bin raus und aufs Fahrrad, an der Haltestelle (die direkt vor der Haustür ist), stand jemand, ich fühlte es gerade wieder zappeln und musste wieder hysterisch aufheulen. Es war so peinlich… “Entschuldigung, ich hab ein Tier im Ohr!” LOL ;-)

Dann kam ich an, die Schwester (wie man hier in Leipzig sagt, nicht “Sprechstundenhilfe”) meinte ständig “Jetzt beruhigen Sie sich doch, es bringt doch nichts, so rumzuheulen, setzen Sie sich doch hin. Haben Sie ihre Chipkarte, und die 10 €?” Ich hatte alles dabei. “Jetzt setzen Sie sich doch hin, Sie brauchen doch nicht zu weinen.” “ICH KANN MEINE GEFÜHLE JETZT NICHT UNTERDRÜCKEN!!!!! Können Sie mich nicht drannehmen?” schrie ich sie an… Ich hab ständig gefragt, ob sie das mit der Karte denn nicht später machen könne, ob ich nicht gleich dran sein könnte.

Anscheinend war aber jemand schon drin, die Ärztin redete mit jemandem hinter einer Tür. “So schlimm kann es ja nicht sein – es kann auch ein Hörsturz sein.” Na toll, Mal wieder ein Arzt, der einem nicht glaubt. Ich musste eine halbe Stunde mit dem Tier im Ohr, das alle halbe Minute zappelte und flatterte (und in meiner Vorstellung Eier legte, tiefer hineinwanderte, schon 1000 Kinder gekriegt hatte, sich in eine Spinne verwandelt und ein Nest gesponnen hatte…) Ich musste die ganze Zeit wimmern und heulen, meine Jacke beissen damit ich nicht zu laut wurde. “Jetzt beruhigen Sie sich doch, die Ärztin kommt ja gleich” – “Was? die ist noch nicht da?” Keine Antwort. Sie war da. Und es war niemand bei ihr. Die Sprechstunde hatte einfach noch nicht angefangen, erst um 7:30. Ich habe sie so gehasst, wie kann man nur jemanden so leiden lassen? Die Schwester und die Ärztin scherzten irgendwas, kicher, kicher, kicher – ich weiß nicht ob über mich aber es kam mir so vor. Endlich war ich dran. Die Ärztin wieder:

“Na ich hab schon gehört, Sie glauben es ist ein Tier im Ohr. Nun beruhigen Sie sich doch, was ist denn passiert..?”
“Können Sie nicht endlich einfach reingucken, ich warte doch schon total lange, bitte!”
“Ach das kann doch gar nicht sein, also so was!! Die Sprechstunde hat gerade angefangen – Punkt 7:30… Da hätten Sie zum Notdienst gehen sollen! (Pah!)”

Auf eine Diskussion darüber, ob man einen Patienten leiden lassen sollte, der im Wartezimmer schon seit einer halben Stunde heult, hatte ich große Lust aber wichtiger war mir, dass das Tier endlich aus dem Ohr kommt.

Sie hat dann endlich reingeschaut “Huch, da ist ja tatsächlich ein Tier drin!!”. Ich bat sie eindringlich, mir das Tier nicht zu zeigen und mir auch nicht zu sagen, was es für ein Tier sei. Das Ohr wurde ausgespült uns das Tier war draussen (es muss wohl sehr klein gewesen sein, denn das Wasser spülte es so schnell in den Abfluss, dass sie es gar nicht gesehen haben, es war aber eindeutig weg).

Sie war sehr überrascht, dass es wirklich ein Viech gewesen war. Das sei sehr selten – viele Menschen hätten das Gefühl, da sei was, aber es ist nichts drin, es ist irgendwas anderes (Hörsturz…) Ich schließe daraus, dass sie mir nicht geglaubt hatten, dass ich wirklich ein Tier im Ohr gehabt hatte. Ich wurde nicht so ernst genommen, und daher auch nicht schnellstmöglich behandelt.

Entschuldigend sagte sie immer wieder “Aber Sie hatten Recht, es war wirklich ein Tier drin…" Plötzlich ging es mir wieder gut, ich war beruhigt, und ich hasste sie auch nicht mehr. Ich fand sie dann ganz OK, und obwohl ich mir im Wartezimmer geschworen hatte, nie wieder zu diesem Ohrenarzt zu gehen, dachte ich beim Verabschieden daran, dass man vielleicht doch Mal zu ihr gehen könnte, wenn ich Mal wieder was hätte. Sie rief noch zur Schwester, als ich hinausging “Ja… man kann sich manchmal wirklich nicht hineinversetzen…”

Ich habe aus dieser Erfahrung so viel gelernt. Vor ein paar Monaten, nichts ahnend noch Nichterziehung, bin ich Mal vom Fahrrad gefallen und hatte einige Verletzungen an der Haut, ein paar Abschürfungen (oberste Hautschicht), die richtig doll weh getan haben. Damals dachte ich “Jetzt verstehe ich…” Wie oft hatte ich meiner Tochter gesagt “Das ist doch nur ein Pups, das kann doch gar nicht weh tun…” und so. Ich habe mich bei ihr sogar entschuldigt und gesagt, ich würde es jetzt verstehen. Damals habe ich aber nicht geheult.

Dieses Mal habe ich einiges, was ich durch Nichterziehung schon in Theorie gelernt habe, in der Praxis bestätigt bekommen – auf die harte Tour.

Ich habe geweint, ich war verzweifelt, ich hatte ein Problem, aber:

1. mir wurde nicht geglaubt (“ist bestimmt kein Tier” “die bildet sich das nur ein”)

2. meine Gefühle wurden nicht respektiert (“da braucht man doch nicht heulen, ist doch nicht schlimm”)

3. ich wurde erzogen (“man muss bis 7:30 warten – das müssen Sie als Patient ja wissen, und wenn nicht, dann lernen Sie das jetzt gefälligst (womöglich stehen Sie sonst jeden Tag schon im 7:00 hier, nee nee, das geht so nicht…)”)

4. keiner hat mich getröstet (ich hätte mir so gewünscht, wenn es schon nicht geht, dass ich vor 7:30 dran komme, dass die Schwester nicht ständig gesagt hätte “ist doch nicht schlimm” sondern “das muss echt schlimm sein, das ist sicher furchtbar… die Ärztin hilft Ihnen bestimmt… ich frag Mal, ob sie nicht doch früher behandeln kann… ich könnte Ihnen einen Tee machen, um Ihnen die Zeit erträglicher zu machen.” Eine Hand an meiner Schulter hätte mir geholfen, dass jemand meine Hand nimmt, sich neben mich setzt, mich versteht, mich nicht alleine lässt…)

5. ich wurde auch noch gerügt (“da hätten Sie zum Notfalldienst gehen sollen” “das stimmt nicht [Sie lügen], Sie haben nicht gewartet, sind doch als erste dran gekommen” (mag ja stimmen, aber “warten” musste ich trotzdem))

6. danach hat sich keiner entschuldigt, im “entschuldigenden” Ton zu sprechen war das höchste der Gefühle!

Erstaunlich finde ich meinen Gefühlswechsel von “Hass” in “na ja, OK”. Wie verlockend, für Erzieher, wenn man weiß, danach wird einem ja eh verziehen…

Ich wollte einfach nur, dass man mir hilft. Ich wollte einfach nur, dass es aufhört. Ich wollte, dass mich einer versteht oder so tut als ob oder sich bemüht, mich zu verstehen. Ich wünsche keinem diese furchtbare Erfahrung. Wenn ich jemandem was Böses wünschen wollen würde, wäre es ein Tier im Ohr! Ich mag da überreagiert haben, aber trotzdem wünschte ich mir Verständnis, Hilfe, Respekt, ernst genommen werden…

Ich habe mich so schuldig gefühlt, so häufig meiner Tochter ganz genau die gleichen Sachen gesagt zu haben. “Ist doch nicht schlimm”, “Nun heul doch nicht (schon wieder)”, “Jetzt beruhig dich erst Mal”, “Ach, ist bestimmt nicht X”, “Da musst du jetzt durch”, “Geh erst Mal in dein Zimmer und beruhige dich”. Wie muss sie mich gehasst haben – und mich dann doch wieder “ganz OK” gefunden haben (damals für mich eine Bestätigung, dass mein Handeln ja doch nicht so schlimm war und ihre Gefühle “übertrieben” oder nur “Schauspiel”.) Ich will das nie, NIE wieder machen.

Ich habe in letzter Zeit sehr viel Theoretisches über Respekt gegenüber Kindern gelesen. Über Kinder ernst nehmen und wie das geht. Auf Englisch gibt es das Buch “How to Talk, so Kids Will Listen, and Listen so Kids Will Talk” von Adele Faber & Elaine Mazlish (leider wird die Übersetzung auf Deutsch “Nun hör doch mal zu!” nicht mehr verlegt).

Heute habe ich am eigenen Leib erfahren, wie es ist, in dieser Welt voller Erzieher ein Kind zu sein. Und das nur ein Mal!

-----

Bitte, bitte, nehmt eure Kinder ernst!

Gruß
Johanna

 
2 Antworten:

Re: Flügelschlag

Antwort von Svenni am 15.11.2006, 21:32 Uhr

Hallo Du,
vielen Dank für Deinen Beitrag.
Du hast mein volles Mitgefühl für diese scheußliche Situation und die Behandlung, die Dir zuteil wurde.
Ich werde mich nun, angeregt durch Deine Überlegungen, nochmal durch die Nichterziehungs-Diskussion wühlen. Bisher hatte ich das vermieden, da ich dachte, das ist nichts für mich. Nun will ich doch wenigstens mal wissen, was das ist.
Ehrlich, tut mir so leid, dass Du so eine üble Erfahrung machen musstest.
LG Svenni (du hast meinen Albtraum erlebt...)

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@Svenni

Antwort von solelo am 15.11.2006, 23:27 Uhr

Liebe Svenni,

ich habe die wichtigsten Ausschnitte aus der Diskussion unter www.unerzogen.de gepostet, so musst du dich nicht durchwurschteln.

Das ist natürlich ein bisschen einseitig, ich habe nicht alle Gegenargumente gepostet ;-) Aber die kannst du ja dann hier finden. Vielleicht ist es dann leichter, die Gegenargumente zu finden, wenn du bestimmte Stichworte aus den Arikeln auf unerzogen.de in die Suche eingibst.

Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, dass du Definitionen und Erklärungen auch bei mir findest, z.T. direkt von hier heraus kopiert:

http://www.unerzogen.de/nichterziehung/2006/11/05/geht-es-um-die-absicht/

http://www.unerzogen.de/nichterziehung/2006/11/06/trosten/

http://www.unerzogen.de/nichterziehung/2006/11/07/die-entscheidungen-des-kindes-sind-immer-richtig/

http://www.unerzogen.de/was-wurdet-ihr-machen-wenn/2006/11/05/kind-klettert-auf-den-tisch/

http://www.unerzogen.de/was-wurdet-ihr-machen-wenn/2006/11/05/will-nicht-mitgehen/

http://www.unerzogen.de/tagesablauf/2006/11/07/gemeinsames-abendessen-vs-fernsehen/

http://www.unerzogen.de/zweifel-kritik/2006/11/06/es-geht-einfach-nicht-ohne-erziehung/

http://www.unerzogen.de/zweifel-kritik/2006/11/07/glaubwurdigkeit-und-vertrauen/


Gruß
Johanna

(P.S.: gerne begrüßen wir dich mit deinen Fragen und Kritik in der Mailingliste. Einzelne Fragen beantworte ich auch gerne privat per Mail (Kontaktdaten auf der Website))

P.S.2: und danke für dein Mitgefühl :-)

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