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Geschrieben von sasu am 23.08.2003, 6:44 Uhr

Deutschland wird Entwicklungsland. Das künftige Arbeitslosengeld II wird unterhalb des heutigen Sozialhilfeniveaus liegen

Entwicklungsland

Das künftige Arbeitslosengeld II wird unterhalb des heutigen Sozialhilfeniveaus liegen

Seit kurzem liegen die Gesetzentwürfe für ein drittes und viertes »Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« (Hartz) vor. »Hartz IV« widmet sich der »Zusammenlegung« von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Arbeitslosengeld gibt es demnach nur noch zwölf Monate (beziehungsweise 18 Monate für über 55jährige), anschließend das Arbeitslosengeld II für »Erwerbsfähige« und Sozialgeld für »Erwerbsunfähige«. Als erwerbsfähig gilt, wer voraussichtlich innerhalb von sechs Monaten mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Nach den Plänen der Bundesregierung sollen ab Juli 2004 rund zwei Millionen Haushalte, die gegenwärtig noch Arbeitslosenhilfe bekommen (Langzeitarbeitslose machen rund ein Drittel der registrierten Arbeitslosen aus) und rund 1,3 Millionen »erwerbsfähige« Sozialhilfebezieher Arbeitslosengeld II beziehen und von den Arbeitsämtern »betreut« werden.

Allein durch die Absenkung der bisherigen Arbeitslosenhilfe werden unzählige Erwachsene an oder unterhalb der Armutsgrenze leben, die von der Europäischen Union mit 50 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens definiert wird. Laut Deutschem Paritätischen Wohlfahrtsverband wird die Zahl der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen um rund eine halbe Million steigen. Junge Arbeitslose bis 25 Jahre müssen auch Arbeiten ohne Sozialversicherungspflicht und ohne Qualifizierungseffekte annehmen – womit für viele ein Leben von Almosen programmiert ist. Vom Fördern ist in dem Gesetzesentwurf nur in der Kann-Form die Rede... Alle »Zumutbarkeitsregeln« der Arbeitsförderung sollen natürlich auch für Erwachsene gelten. Es kommt aber noch schlimmer: Entgegen der früheren Ankündigung, das neu zu schaffende Arbeitslosengeld II würde zehn Prozent oberhalb der Sozialhilfe rangieren, und der aktuellen Behauptung, es würde auf Sozialhilfeniveau abgesenkt, wird das Arbeitslosengeld II – wie Berechnungen ergeben – eindeutig unterhalb des jetzigen Sozialhilfeniveaus liegen.

Arbeitslosengeld (Alg) II wird 345 Euro (im Osten 331 Euro) plus Miete betragen, wobei momentan noch offen ist, ob diese pauschaliert ausgezahlt wird (modellhaft praktiziert in einzelnen Städten wie etwa in Kassel, wo die Pauschalierung in zirka 1000 Fällen zum Verlust der Wohnung führen wird – die von Roland Koch angedrohten »Einfachstwohnunterkünfte« lassen grüßen) oder in »angemessener Höhe« übernommen wird. Die geplanten monatlichen Zuschläge von 160 Euro im ersten Jahr des Bezugs und 80 Euro im zweiten Jahr werden nur denjenigen gezahlt, die sich im Übergang vom Alg zum Alg II befinden. Die »Altfälle«, also diejenigen, die schon längere Zeit Arbeitslosenhilfe beziehen, erhalten diese Zuschläge nicht. In dem Betrag von 345 Euro ist eine Pauschale von 16 Prozent für Bekleidung, Möbel etc. enthalten. Ob darin auch Telefon- und Fahrtkosten veranschlagt sind, ist noch nicht bekannt. Zieht man die Pauschale (55,20 Euro) ab, dann verbleiben 289,80 Euro für den Lebensunterhalt.

Demgegenüber beträgt der heute in Frankfurt am Main gezahlte Sozialhilferegelsatz 297 Euro plus Miete (orientiert an der ortsüblichen Vergleichsmiete) plus einmalige Beihilfen (die jeweils einzeln beantragt werden müssen) und Kleidergeldpauschale in Höhe von 321,60 Euro jährlich (ab Januar 2004: 300 Euro, also 25 Euro monatlich).

Der Vergleich beweist: Das geplante Alg II wird unterhalb der jetzigen Sozialhilfe liegen. Auch die einmaligen Beihilfen, da pauschaliert ausgezahlt, werden faktisch gekürzt. (Immerhin hat das Verwaltungsgericht Kassel kürzlich entschieden, daß die Heizkostenpauschale rechtswidrig ist und die Zahlung den tatsächlichen Kosten entsprechen muß). Pauschalierung einmaliger Beihilfen heißt in den laufenden Modellversuchen schon jetzt, daß Anspruchsberechtigte zum Beispiel für eine Waschmaschine 2,66 Euro pro Monat erhalten, die sie ansparen sollen. Reicht Alg II definitiv nicht zum Überleben – etwa nach erfolgten Sanktionen wie der Kürzung des ALG II bei Ablehnung »zumutbarer« Arbeit – wird ergänzende Sozialhilfe ausgeschlossen, und es gibt allenfalls Sachleistungen (Care-Pakete?).

Es kommt eine weitere – weitgehend unbekannte – drastische Verschärfung gegenüber der Arbeitslosenhilfe hinzu: Langzeitarbeitslose können Alg II nur dann beziehen, wenn Verwandte ersten Grades (Eltern, Kinder) sie nicht unterhalten können. Die unzumutbare Bedürftigkeitsprüfung nach dem Bundessozialhilfegesetz wird also auch auf Arbeitslosenhilfe-Bezieher zukommen und damit auf einen deutlich größeren Personenkreis ausgeweitet. In der Konsequenz bedeutet dies, daß sich beispielsweise 55jährige Erwerbslose von ihren 80jährigen Eltern ernähren lassen müssen, falls diese nicht – da selbst bedürftig – dazu außerstande sind. Junge Erwerbslose, die einen eigenen Haushalt gegründet haben, sind auf die Großzügigkeit ihrer Eltern angewiesen, um zu überleben. Ältere Erwerbslose müssen bei ihren (noch) erwerbstätigen Kindern betteln gehen. Hier werden familiäre Strukturen zugrundegelegt, wie sie nicht einmal mehr in Südeuropa Gültigkeit haben dürften. Ein nicht einzuschätzender Teil der Arbeitslosenhilfe-Bezieher wird wohl aus reinem Stolz aus diesem Grund seine Ansprüche gar nicht erst geltend machen.

Der gesetzliche Anspruch auf menschenwürdiges Leben gehört damit der Vergangenheit an. Alle Versicherungen und Rücklagen fürs Alter, die Zukunft der Kinder oder Fortbildung müssen bei Arbeitslosigkeit verkauft werden. Wer vorsorgt, ist der Dumme. Wer arbeitslos ist, ist arm und krank. Tun wir es Michael Moore gleich: Laßt uns Entwicklungshilfe für Deutschland beantragen!
http://www.jungewelt.de/2003/08-23/011.php

 
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