Rund um die Erziehung

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Geschrieben von wolkigbisheiter am 22.06.2021, 10:00 Uhr

Bindungstheorie

Hallo liebe Community, liebe Ärzte/Ärztinnen,

mich beschäftigt das Thema Bindungstheorie sehr und hoffe, dass mir vielleicht jemand mit ähnlichen Erfahrungen oder aus Sicht eines Arztes/Psychologen (auch weiblich :)) helfen kann.

Meine Tochter ist 20 Monate alt und wird gerade bei der Tagesmutter eingewöhnt, weil ich bald wieder arbeiten gehe.

Sie ist ein High-Need-Baby oder auch "Schrei-Baby" gewesen und bis heute noch immer sehr emotional. Sowohl Freude als auch Enttäuschung oder Wut äußert sie extrem - im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen.
Wir hatten einen schweren Start mit stundenlangem Schreien, ausschließlichem Tragen und Stillen. Das erste Jahr war sehr schwer für uns - vor allem isoliert im Lockdown.

In Krabbelgruppen (so ab 10 Monaten) war sie wie auch auf Spielplätzen immer sehr klammernd. Selbst die Trennung wenn ich zur Toilette ging, mussten wir lange üben (Schreien, wüten, trommeln gegen die Türe).
Sie schläft nachts im Familienbett, tagsüber in der Trage bis wir sie ablegen können.

Ich habe mir immer die größte Mühe gegeben, sie nie alleine schreien lassen, gesungen, gewiegt. Wir waren alles organische abklären, beim Osteopaten etc.
Nach 5. Monat wurde das Schreien besser, nach dem 1. Geburtstag auch das Klammern.

Aber sie lässt sich noch immer nur von mir beruhigen, vor allem nachts. Sie wütet schnell, bei Problemen oder wenn ihre Bedürfnisse nicht SOFORT adäquat gestillt werden.

Trennungen von mir sind sehr hart für sie.
Sie weint bitter, beruhigt sich aber schnell (laut Tagesmutter), wenn ich gehe und spielt mit den anderen. Dennoch muss sie meist nach drei Stunden wieder aus dem Kinderladen abgeholt werden, weil sie nur noch nach Mama schreit.

Ich selbst habe eine schwere Kindheit mit alleinerziehender alkoholkranken und gewalttätigen Mutter hinter mir (mit Heimaufenthalten in der Jugend) und will meiner Tochter meine Unsicherheiten bei Bindungen mit anderen auf keinen Fall weitergeben.

Der Schlafentzug und ihre Wut- und Schreianfälle triggern mich seit einem halben Jahr immer heftiger. Ich werde schnell wütend und traurig, weine oder wüte ebenfalls vor mich hin und kann ihr dann nicht die Zuneigung geben, die sie braucht. Ich brauche eine Pause und bin einfach nur noch erschöpft. Es ist als wenn alle meine Energie aufgebraucht ist und ich jeden Tag kämpfen muss.

Der Papa ist für sie zwar eine wichtige Person, wird aber nicht als Ersatz akzeptiert. Wenn er mich mal umarmt vor ihr, wird sie meist sehr eifersüchtig.

Ist das normal? Ich habe Angst, dass sie unsicher-ambivalent gebunden sein könnte, weil ich einfach immer öfter fix und fertig bin und nicht immer geben kann, was sie braucht. (Bsp: stundenlanges Tragen und rumlaufen in der Nacht)
Was mache ich falsch? Was mache ich richtig?
Ich weiß einfach nicht mehr wohin. Vorgelebt wurde mir das nicht und ich weiß nicht, wo ich Rat suchen kann.

Vielen Dank für Eure Hilfe schon mal :)

 
15 Antworten:

Re: Bindungstheorie

Antwort von Tuja am 22.06.2021, 10:54 Uhr

Ich finde es gut, dass du ihre Bedürfnisse erfüllst so gut es dir möglich ist.
Aber du musst auch unterscheiden zwischen echtem Bedürfnis und Willen des Kindes. Nähe würde ich als Bedürfnis sehen, das so oft es geht und gewollt wird, gestillt werden sollte. Hier kamen die Kinder einfach mit zur Toilette oder bleiben beim Papa.
Nachts würde ich auch nicht erziehen und dem Kind einfach geben, was es möchte, ABER ich würde ein fast 2 Jähriges mot entsprechendem Gewicht nicht mehr zum Einschlafen tragen. Für dein Kind ist es eine liebgewonnene Gewohnheit, sie wird aber immer schwerer und du immer schwächer (übermüdet, nervlich gestresst). Wenn sie 5 ist kannst du sie auch nicht mehr in die Trage setzen und die halbe Nacht rumtragen. Es wird nicht irgendwann bei ihr Klick machen und sie wird sich ins Bett legen und einschlafen. Sie hat sich an das Tragen gewöhnt. Das kann man aber auch wieder abgewöhnen. Du mußt dabei nir sehr konsequent bleiben. Leg dich mit ihr ins Bett und begleite sie in den Schlaf. Auch wenn sie weint bleibst du liebevoll konsequent und bist einfach für sie da. Sie gewöhnt sich daran und nimmt davon keinen Schaden. Du nimmst aber Schaden, wenn du dir das weiter zumutest, du merkst es ja bereits deutlich an Schlafmangel und Erschöpfung.
Mach ihr auch deutlich, dass der Papa dich auch umarmen darf. Sie kann ja mit euch zusammen kuscheln und darf auch in dem Moment mitmachen bei einer Umarmung. Sie darf aber nicht in der Positionsein, dass sie euch die Nähe verbietet. Damit tust du ihr auch keinen Gefallen.

Das klingt für dich jetzt vielleicht hart, mir ging es beim ersten Kind auch so,dass ich keinen Wunsch abschlagen konnte. Auch ich musste einsehen, dass ich damit aber einen Egozentriker herangezogen hätte und damit dem Kind geschadet hätte, weil es sich so in der Gesellschaft nicht zurechtgefunden hätte. Es kann nicht immer nur um eine Person gehen.
Als Buchtipp hätte ich noch das kompetente Kind von Jesper Juul. Es gibt auch noch andere Bücher zu dem Thema. Nur um das Buch "jedes Kind kann schlafen lernen" solltest du einen riiiiiieeesen Bogenachen und das NIE lesen.

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Re: Bindungstheorie

Antwort von Tatina am 22.06.2021, 11:27 Uhr

Hallo,

Psychologin hier. Um es kurz zu fassen: Es ist gut und wichtig, dass du für sie da bist, tröstest, kuschelst etc. Die Mutter-Kind-Bindung nimmt nur Schaden, wenn das Kind regelmäßig vernachlässigt oder misshandelt wird, also das Gefühl bekommt, dass Mama in Notsituationen nicht da ist. Da brauchst du dir also wirklich keine Sorgen zu machen. Du darfst dich auch ein Stück weit abgrenzen und deine eigenen Bedürfnisse durchsetzen. Du darfst sie auch Mal etwas warten lassen oder einen Wunsch abschlagen. Du musst unterscheiden lernen, was ein wirkliches Bedürfnis ist (Essen, Schlafen, Nähe, Sicherheit...) und was "nur" ein Wunsch (zB Süßigkeiten, nachts getragen werden etc). Deine Tochter muss lernen, auch Mal ein Nein auszuhalten und mit ihrem Frust umzugehen. Dabei kannst du helfen und versuchen zu trösten, aber du kannst ihr nicht jeden Wunsch erfüllen. Und du solltest unbedingt auf dein eigenes Wohl achten, du merkst ja dass du keine so gute Mutter bist wenn du erschöpft bist. Also ist es auch im Interesse deiner Tochter, dass du Entlastung bekommst und genug Schlaf.

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Re: Bindungstheorie

Antwort von wolkigbisheiter am 22.06.2021, 12:43 Uhr

Vielen Dank für deine Rückmeldung und Ratschläge, Tuja!

Du hast vollkommen recht mit dem Unterschied von Wunsch und Bedürfnis. Das hab ich bisher so nie gesehen. Oder nicht wahrgenommen.
Ich dachte immer, dass das Tragen ihr Entspannung und Sicherheit gibt - genau wie das Stillen. Und Tragen war eine Art Ablenkung, als wir das Einschlafstillen massiv reduzieren mussten (Medikamente). Wahrscheinlich ist es nun eine Angewohnheit, die wir tatsächlich abgewöhnen müssen.
Nur dieser Protest, das Schreien ist einfach so schwer zu ertragen für mich. Nach Monate voller Dauergebrüll und mit meinem Hintergrund wünsche ich mir einfach mehr Ruhe für uns alle.
Vermutlich muss ich da noch viel an mir arbeiten, um konsequenter zu werden.

Vielen Dank für den Buchtipp! Ich werd's mir gleich mal bestellen. Das andere Buch vom Schlafenlernen kommt für uns auch nicht in Frage.

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Re: Bindungstheorie

Antwort von wolkigbisheiter am 22.06.2021, 12:49 Uhr

Hallo Tatina,

vielen Dank für deine Antwort. Das hilft mir sehr und nimmt mir echt etwas Angst was die Bindung angeht.

Frusttoleranz ist ein große Thema hier. Du hast recht, sie muss lernen damit umzugehen; wir können ihr das nicht immer abnehmen indem wir alle Wünsche erfüllen.
Bis zu deiner und der Antwort von Tuja, habe ich nie zwischen Wunsch und Bedürfnis unterschieden. Wirkt gerade bizarr auf mich, dass mir der Gedanke nie kam.
Ich danke dir vielmals für dein Input

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Re: Bindungstheorie

Antwort von Tuja am 22.06.2021, 17:12 Uhr

Ja da hast du natürlich Recht, das Tragen und Stillen gibt ihr Sicherheit und Entspannung. Du kannst aber genauso gut im Liegen oder sitzen stillen und sie im Arm halten. Das gibt ihr genau die gleiche Sicherheit. Das Tragen funktioniert, weil sie es mag. Jedes Kind wird gerne getragen, meine Kinder wurden genauso getragen. Nur zum Einschlafen habe ich sie wirklich nie getragen und ihnen hat nichts gefehlt. Das ist eben die Gewohnheit dabei. Ich trage auch heute noch Grundschulkinder ins Bett, wenn sie auf der Couch müde werden, sie genießen das ja auch. Auf Mamas und Papas Arm fühlen sich Kinder einfach sehr geborgen und beschützt. Einschlafen müssen sie aber alle im Liegen. Im Alter deiner Tochter noch mit seeeehr viel Körperkontakt und Nähe. Alleine einschlafen müssen Kinder nicht, das ist auch irgendwie nicht "artgerecht".
Deine Tochter versteht wahrscheinlich schon sehr viel!? Erklär ihr, dass dein Rücken wehtut und du sie deshalb nicht mehr tragen kannst, wenn sie schlafen soll. Ganz ohne Protest wird das wahrscheinlich nicht angenommen werden, es ist aber wirklich wichtig,dass du auch dann nicht einknickst, wenn sie weint und schreit und ewig lange wach bleiben will, sonst merkt sie,dass es nicht so schlimm ist, wie du behauptet hast, wenn du sie dann doch wieder trägst. Kurz: sie wird dich dann nicht mehr ernstnehmen und auch merken, dass sie nur lange genug schreien muß und dann doch ihren Wullen bekommt, egal was du vorher gesagt hast. Das wärefür euch beide wirklich ungesund, wenn sie diese Verknüpfung herstellt.

Dass du dich mit dem Kind beschäftigst ist auch enorm wichtig. Aber überleg dir auch dabei welche Grenzen du ziehen möchtest und wo es Kompromisse geben kann. Bsp: du entscheidest dass sie eine Hose anzieht, sie wählt zwischen 2 Hosen welche es sein soll ; du entscheidest dass sie gewaschen wird, sie entscheidet mit welchem Waschlappen etc.
Die Rolle als Mutter bedeutet ja nicht nur Nähe und Verwöhnen sondern auch leiten und führen.
Falls sie nur Schokolade essen möchte, morgens mittags und abends,würdest du da wahrscheinlich auch nicht nachgeben, oder? Das würde ihr auch nicht guttun. Immer den Willen zu bekommen bedeutet im Umkehrschluß,dass das Gefühl für Empathie nicht ganz so stark wahrgenommen wird. Damit würdest du dir einen lleinen Tyrannen heranziehen, mit dem kein anderes Kind gerne spielen möchte. Der Mittelweg macht's.

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Re: Bindungstheorie

Antwort von Caot am 22.06.2021, 19:40 Uhr

Du musst aufhören Dich zu opfern!

Ich bin keine Psychologin, auch keine Ärztin. Hier schreiben Laien, wie Du und ich. Rat wird gegeben, oft weil man selbst erzogen hat. Profis sind wir trotzdem!

Du machst vieles richtig und wenig falsch. Kinder sind unterschiedlich und lösen sich mal mehr, mal weniger gut. Wichtig ist, bei aller Liebe zum Kind, sich nicht selbst zu vergessen.

Nimm den Papa stärker in die Pflicht. Geht jetzt viel auf den Spielplatz, zum schwimmen, in eine Krabbelgruppe. musikalische Früherziehung (Babymusikgarten). Kontakt, Kontakt, Kontakt .... zu anderen Kindern damit dein Kind lernt und zu anderen Müttern, damit Du siehst, dass Du nicht alleine bist und viele deiner Probleme normal sind.

Glaub an Dich! Da ist viel Gutes an deinem Tun.

Meine Tochter hat auch ewig nicht losgelassen. Jetzt ist sie in der Pubertät. Jetzt bin ich es der nicht los lassen kann.

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Re: Bindungstheorie

Antwort von wolkigbisheiter am 23.06.2021, 9:59 Uhr

Hallo Caot,

vielen Dank für deine Antwort.

Du machst mir Mut, das tut gut. Danke für den Tipp mit den Unternehmungen. Das werden wir einplanen. Bis vor Kurzem haben wir echt noch in der Panik-Haltung gelebt: Was wenn sie wieder losbrüllt und nicht mehr aufhört. Und uns daher nur in einem Radius bewegt, der nah genug am Zuhause ist
Das müssen wir dringend ändern. Vielen Dank!

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Tröst-Posting (Achtung, lang)

Antwort von Lillimax am 23.06.2021, 16:08 Uhr

Hallo,

ich möchte nicht wissen, wie viele tausend Mütter (Väter dagegen so gut wie nie) Angst haben, ihr Kind könnte „unsicher“ gebunden sein. Dann googeln sie ein bisschen, und schwups, da steht‘s schon: Ihr Kind ist „unsicher-ambivalent gebunden.“ Alle Symptome und Anzeichen scheinen zu stimmen, und wenn nicht, zieht man sich eben diejenigen raus, die passen. Der Witz ist, dass natürlich genau die Kinder dieser besorgten und engagierten Mütter so gut wie nie unsicher gebunden sind.

Lass die Bindungstheorie mal beiseite, sie hat mit Deiner Situation wirklich nichts zu tun. Ich hatte beim Lesen Ideen für ein paar Gedankenanstöße, ich schreib‘ sie einfach mal auf.

Weißt Du, wenn man selbst eine schwere Kindheit hatte, neigt man zur Überkompensation. Man will dann ALLES besser und richtig machen und hat große Angst, das Kind könne Schaden nehmen oder man könnte etwas ans Kind weitergeben vom eigenen Leid. Man neigt dann zur Übererfüllung der Mutterrolle, hat eine völlig irreale Erwartung daran, wie eine wirklich gute Mutter sein sollte.

Auch traut man seinem Baby/Kind in der Folge zu wenig zu, unterschätzt seine seelische Gesundheit und Widerstandsfähigkeit. Und man geht deshalb ständig über die eigenen Grenzen hinaus aus Furcht, etwas falsch zu machen.

Das funktioniert nicht lange, denn irgendwann ist man genervt und am Ende. Und dann wird man gereizt, ungeduldig, ungerecht, man schimpft oder fasst das Kind gar arg fest an. Und schon denkt man: „Da! Jetzt ist es passiert, ich bin wie meine Eltern, ich mache es falsch, das Kind nimmt Schaden.“ Also gibt man sich noch mehr Mühe, überkompensiert immer weiter, und der nächste Anfall von Überforderung und Genervtheit ist vorprogrammiert. Ein hausgemachter Teufelskreis.

Aus dem kommst Du raus. Und hier sind ein paar Schlüssel:

- Keine einzige Mutter auf diesem Globus ist immer geduldig. Alle Mütter, auch die engelsgleich wirkenden oder die mit eigener Superkindheit, haben gelegentlich schlechte Gefühle gegenüber ihrem Kind. Jede (!) Mutter ist mal richtig genervt, ungeduldig, ungerecht, sie wird laut, ihr reicht‘s, sie möchte das Kind zum Mond schießen. Dies zu wissen und es als wahr anzuerkennen, ist eine Riesenerleichterung.

- Psychologen sagen: Eine Mutter und ein Vater müssen ungefähr die Hälfte richtig machen, damit ihr Kind ohne seelischen Schaden glücklich erwachsen wird. Bitte überlege, was das heißt: Anstatt danach zu streben, möglichst ALLES richtig zu machen, reicht es, wenn Du die Hälfte richtig machst. Ist das nicht wunderbar?

- Vertraue Deiner Tochter mehr. Sie ist jetzt ein kleines Kind, kein Säugling mehr, der eine symbiotische Beziehung zur Mama braucht. Sie nabelt sich bereits etwas ab. Du musst ihr das aber auch zutrauen. Und es ihr erlauben. Wenn Du aber ständig vollständige, sofortige Wunscherfüllung anstrebst, kann sie sich nicht von Dir lösen. Kann nicht lernen, ein wenig zu warten, kleine Frustrationen auszuhalten, stark zu werden und selbstsicher. Denn Du vermittelst ihr: Ich glaube nicht, dass du stark genug bist, ein wenig Geduld zu haben oder ein klares Nein zu ertragen. Diese Botschaft aber ist nicht gut.

So erlaubst Du ihr auch kaum, mal etwas wütend zu sein und vor Wut oder Enttäuschung ein bisschen zu weinen. Du gibst dann nach, dabei ist es nicht gefährlich oder schädlich, wenn ein Kind aus Frust mal weint (das ist sein gutes Recht) und trotzdem seinen Willen nicht durchsetzt. Man kann dann trösten, zeigen, dass man es versteht, aber dennoch nicht nachgibt. Man muss hier auch nicht übermäßig stark trösten oder lange erklären, sondern ruhig, knapp, aber unerschütterlich reden. Dann kann man das Kind ablenken („Willst du mir beim Kochen/Staubsaugen/Wischen helfen? Du darfst den Mop nehmen, wenn du willst.“)

Deine Tochter braucht also eine starke, gelassene Mutter, die ihr auch mal etwas zutraut. Zum Beispiel, negative Gefühle auszuhalten, die ja zum Leben dazugehören. Sie braucht aber auch eine Mama, die ihre eigenen Grenzen und Limits bemerkt, wahrnimmt und gut für sich sorgt. Denn nur eine Mutter, die gut für sich sorgt, kann auch für ihr Kind sorgen. Sonst rutscht sie nämlich früher oder später wieder in die Wut, weil sie dem Kind ungewollt (!) die Schuld dafür gibt, dass sie wieder mal zu oft und zu lange über ihre Grenzen hinausgegangen ist.

Unterschätze die Resilienz und seelische Stabilität Deiner Tochter nicht. Sie ist eine kleine, starke Person, der Du durch Deine Liebe längst ein gutes Fundament gegeben hast. Im Moment manipuliert sie Dich ein bisschen, weil sie merkt, dass Du ein Abgrenzungsproblem hast und emotional erpressbar bist. Sie macht das nicht bewusst, es geschieht, weil Du ihr vermittelst, dass Du Angst und Schuldgefühle hast. Kinder haben feinste Antennen, sie spüren so etwas sofort.

Ich empfehle Dir das wunderbare Buch „Der Tanz ums Kind“ von Harriet Lerner. Sie ist Familientherapeutin und zugleich Mutter. Ein unglaublich entlastendes Buch, weil sie mal Klartext über den Mutter-Mythos spricht und erklärt, warum jede Mutter auch mal richtig schlimme Gefühle gegenüber dem Kind hat und auch haben darf. Und warum das trotzdem nicht schädlich ist, wenn dafür andere Dinge stimmen und das Kind geliebt ist. Einfach mal lesen, es ist pures Gold wert und dazu auch noch lustig geschrieben. Ein Augenöffner.

Es gibt ein Paradox: Wenn Du Dir erlaubst, ab und zu auch mal eine miese Mutter zu sein, entlastet Dich das so, dass Deine innere Spannung sich auflöst und Du von selbst eine bessere Mutter wirst. Nicht durch immer noch mehr Anstrengung. Sondern durch viel mehr Loslassen und Selbstliebe.

LG

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Re: Tröst-Posting (Achtung, lang)

Antwort von wolkigbisheiter am 23.06.2021, 19:04 Uhr

Hallo Lillimax,

ich habe deinen Beitrag mehrmals lesen müssen und es tat wirklich gut ihn zu lesen. Du schreibst so ehrlich und gleichzeitig so einfühlsam, wie der Rat einer Freundin klingen würde. Vielen Dank für diese tolle Nachricht, das hat mich echt gefreut!

In jedem Satz hab ich mich wiedergefunden und sehe was du meinst. Deine Schlüssel fürs Aussteigen aus dem Teufelskreis helfe mir sehr.
Vor allem zwei Punkte: 1) dass wir als Eltern je die Hälfte beisteuern und 2) meiner Tochter mehr zu vertrauen.
Der Punkt Vertrauen ist in jeder Hinsicht sehr schwer für mich und der Hinweis von einem "fremden" Menschen ein ziemlicher Augenöffner.
Ich finde die Sichtweise besonders gut, dass sie auch ein "Recht" darauf hat, stark genug ist und das lernen darf. Nicht muss.

Es ist, wie du sagst, MEIN Abgrenzungsproblem - gar nicht ihres. Ich danke dir von Herzen für die liebe Nachricht und die Denkanstöße. Und natürlich die Buchempfehlung. Mein Mann will das Buch von der Beschreibung her auch schon lesen

VG

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Re: Bindungstheorie

Antwort von Schniesenase am 24.06.2021, 23:08 Uhr

Hallo Wolkigbisheiter,

Lillimax hat es wundervoll formuliert, und auch die vorherigen Kommentare waren sicher hilfreich. Ich würde noch eine Sache hinzufügen:

Alle Menschen unserer Gesellschaft sind Nachkriegsenkel oder -urenkel. Als solche tragen wir Verletzungen der Vergangenheit in uns, die wir von unseren Großeltern und Eltern vermittelt bekommen haben, die selbst unter vielen psychisch sehr schwierigen Zuständen leben und großwerden mussten.

Meine feste Überzeugung ist, dass wir gut daran tun, für uns selbst sowieso, die alten Mühlsteine zu bearbeiten, damit wir sie abwerfen können und selbst leichter vorankommen, aber auch für unsere Kinder, denn wir können ja gar nicht anders als das entweder zu unterdrücken oder überzukompensieren und finden so keine richtige Mitte, und am Ende tragen sie dann die Mühlsteine weiter. Nicht, weil wir "Schuld" sind (Schuld ist absolut nichtig!), sondern weil wir eben nicht geschafft haben, die Themen unserer Vorangegangenen abzulegen, nenne es Koffer, Mühlsteine oder ähnlich.

Man merkt Dir an, dass Du sehr reflektiert bist und wach und die Dinge gut machen möchtest, daher auch bereit bist, alles mögliche kritisch zu betrachten und jede weitere Info zu verwenden, um letztendlich genau das zu tun: die Mühlsteine abzuwerfen, Deinem Kind das Leid zu ersparen, das Du selbst erlebt hast.

Aus Erfahrung kann ich sagen, dass das alles sehr wichtig und hilfreich ist, und doch reicht es nicht, das kognitiv zu verarbeiten, wir müssen es richtig fühlen, und auch das Gefühl und der Körper müssen überzeugt werden, dass das jetzt nicht mehr so ist wie die schlimmen Zeiten früher.

Das ist wie das Schmerzgedächtnis im Körper: Jemand erleidet einen Unfall, eine Verletzung, ein Trauma an einer bestimmten Stelle des Körpers, und nachdem alles offensichtlich verheilt und wieder ok. ist, spürt die Person weiter schlimme Schmerzen. Die werden einfach gespeichert und behalten, rein prophylaktisch, traumatisch im Gewebe, so dass auf keinen Fall mehr eine falsche Bewegung gemacht wird, die VORHER, als alles kaputt war) zu neuer Retraumatisierung geführt hat bzw. hätte. So bilden sich Fehlhaltungen, die sinnloserweise zu neuen Beschwerden führen. Ein Teufelskreis! JETZT aber ist alles verheilt, und der Schmerz hat keinen Sinn mehr. Dennoch produzieren die Zellen ihn, weil der Schock tief im Gedächtnis festgehalten ist. Die Medizin kennt dieses Phänomen und gibt Menschen mit solch starken Verletzungen während der Heilungsphase Schmerzmittel, damit es nicht zu so einer Gedächtnisbildung im Gewebe kommt.

So ähnlich funktioniert das auch mit traumatischen Verletzungen des Menschen auf der seelischen Ebene - bei Gewaltanwendung ja auch auf der körperlichen. Diese beiden Ebenen sind gerade bei Kindern so eng verbunden, dass sich sozusagen auch hier ein körperliches Schmerzgedächtnis bildet, das bearbeitet werden muss. Darum wundert man sich, wenn man so aufgeklärt und wach ist wie Du, und so aufmerksam für diese Dinge, warum man das zum Geier nicht umsetzen kann, obwohl man das doch alles wirklich verstanden hat, kognitiv. Mir ging das so, und ich beobachte das immer wieder bei anderen.

Ich habe mir fachkundige Hilfe gesucht, als ich merkte, dass ich verstandesgemäß alles voll durchdrungen hatte und dennoch immer wieder an meine Grenzen kam und das Aufrechterhalten einer Normalität, so, wie ich sie gut und richtig fand und die andere mit Leichtigkeit leben, wahnsinnig anstrengend blieb. Eine Kinesiologin hat mir geholfen, ebenso eine heilhändige Osteopathin, und es hat mich erstaunt, wie viel leichter dann vieles wurde. Manche Leute klopfen (Klopftechnik), andere lassen sich von Homöopathenen helfen, wieder andere machen eine systemische Familienaufstellung usw. Die Methoden sind vielfältig, möglicherweise braucht man auch verschiedene. Man kann sich dem Problem von vielen Seiten nähern und muss einfach schauen, was zu einem passt. Der Vorteil ist, dass mit der Zeit viel mehr Energie frei wird und außerdem die Kinder das nicht mehr mittragen müssen. Das ist sehr befreiend!

Du musst unheimlich viel Kraft haben, vermutlich merkst Du es selbst nicht, weil so viel davon da hinein geht, Dich selbst zu kontrollieren und aufzupassen, dass Du die richtige Richtung beibehältst.

Wahnsinn, wenn diese Kraft mal frei ganz für Dich und Deinen eigenen Weg arbeiten darf!

Vielleicht ist auch hier was für Dich dabei, das Dich weiterbringt.

Du bist ganz sicher eine wundervolle Mutter für Dein Kind. Schließlich hat es sich Dich als Mama ausgesucht, sonst wäre es jetzt nicht bei Dir. :-)

Alles Liebe und Gute!

VG Sileick

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Re: Bindungstheorie

Antwort von Delphine am 25.06.2021, 8:32 Uhr

Dein Kind ist ja nicht mehr so klein. Es muss lernen, sich auf Deine Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Du musst auch einmal nein sagen, wenn Du nicht kannst. Wenn Du sie nicht tragen kannst, sagst Du ihr deutlich, wir können gerne kuscheln, aber ich kann Dich nicht mehr tragen. Ich kann nicht mehr so schwer tragen (oder ähnlich).

Kinder kommen mit nein zurecht, wenn man sie dabei ernst nimmt, aber auch kurz erklärt, warum es nicht so geht, aber anders.

Ich kann Dir auch noch das Buch „Nein aus Liebe“ von Jesper Juul empfehlen.

Dein Kind muss ja auch von Dir lernen, eigene Bedürfnisse gegen andere durch Nein-Sagen zu artikulieren. Das geht nur, wenn Du es vorlebst. Und solange Du gefühlvoll und liebevoll das Nein kurz erklärst (ohne Dich in Diskussionen einzulassen und ohne vom Nein abzuweichen), dann lernt Dein Kind sehr viel daraus.

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Re: Bindungstheorie

Antwort von Moosweibchen am 27.06.2021, 8:56 Uhr

Hallo, hier noch ein paar Anregungen aus der Entwicklungspsychologie: im Alter deines Kindes hat die Entwicklung des Bewusstseins für das eigene Selbst schon große Fortschritte gemacht. Das Kind erkennt vor allen Dingen, dass seine Bedürfnisse und deine Bedürfnisse nicht immer dieselben sind und sich oft widersprechen können. Diese Trennung realisiert es seit Monaten und muss sie akzeptieren lernen.
Das ist wichtig und gesund aber auch sehr schwierig für das Kind und das äußert sich oft in Frustration und Wut und Verzweiflung oder anderen negativen emotionsausbrüchen.
Dann ist natürlich auch für die Mutter schwer durchzuhalten und gerade in dieser Phase ist es wichtig für das Kind da zu sein aber auch, für seine eigenen Bedürfnisse einzustehen und dem Kind auch klar zu kommunizieren dass es andere Menschen gibt die sich auch um sich selbst kümmern müssen. In dem Alter deines Kindes kann es das nun auch schon gut verstehen und aufnehmen. Es ist übrigens kein Zeichen für unsichere oder ambivalente Bindung, wenn dein Kind Trennungen schwer verkraftet. Das nur noch am Rande.
Diese Zeit ist sehr schwer mit einem high need Kind und mit eigener schwerer Vergangenheit, aber es ist ebenso wichtig dass du deinem Kind vorlebst, wie man auf sich selbst achtet und sich nicht stressen lässt. hier kannst du auch gut als Vorbild da sein und nicht nur als unterstützende Mutter. Ich hoffe dies hilft dir auf eine Art und Weise

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Re: Bindungstheorie

Antwort von wolkigbisheiter am 27.06.2021, 12:30 Uhr

Hallo Moosweibchen,

vielen Dank für deinen Beitrag. Mir ist durch die Antworten auf mein Posting ziemlich deutlich aufgefallen, dass ich (und auch mein Mann) wie in einer Dauerschleife von vor einem Jahr festhingen. Ich habe gar nicht gesehen, dass meine Tochter jetzt soviel reifer geworden ist. Wir haben uns eigentlich immer verbogen soweit es möglich war, um dem nächsten Schreianfall aus dem Weg zu gehen. Hauptsache sie ist zufrieden und irgendwie auch besänftigt.

Dass das nicht gesund ist, sehe ich nun ganz deutlich. Sie muss lernen mit ihrem Frust umzugehen - ich aber auch. Uns fehlte, glaube ich, oft der Austausch (ähnlich wie hier) mit anderen Eltern, der ja u.a. corona-bedingt leider kaum stattfand. Wir haben kaum Eltern-Freunde, von denen wir uns Rat holen könnten oder etwas abschauen.

Nachdem ich mit meiner Tochter gesprochen und ihr klar gesagt habe, dass Tragen keine Option in der Nacht mehr ist, hatten wir zwar überwiegend schlafarme und zermürbende Nächte bisher - dafür sehe ich deutliche Fortschritte. Sie hat es verstanden, alleine einzuschlafen fällt ihr dennoch sehr schwer. Und das ist okay. Bevor ich Mutter wurde, konnte ich oft auch nicht so leicht einschlafen (jetzt hingegen geht das im Stehen ).
Mein Mann und ich haben die Tage viel darüber geredet: Wir werden weiter daran arbeiten und nicht mehr die Vermeidungsstrategie fahren.

Ich danke dir herzlich für deine Antwort; das hilft mir sehr.
Alles Liebe für dich!

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Re: Bindungstheorie

Antwort von wolkigbisheiter am 27.06.2021, 12:37 Uhr

Liebe Delphine,

vielen Dank für die Buchempfehlung! Das Buch hatte ich vor einem Jahr auch gelesen, vielleicht sollte ich es nochmal lesen und mein Gedächtnis auffrischen.

Ja, sie ist gar nicht mehr so klein wie ich vermutlich noch dachte. Das habe ich in vielen Antworten rausgelesen und irgendwie fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen. Der harte Start und das Geschrei vom Anfang klingelt uns beiden Eltern einfach noch wahnsinnig in den Ohren. Oft vermeiden wir daher solche Frustsituationen unbewusst und verbiegen lieber uns.

Das ist nicht gesund für sie oder uns und wir arbeiten nun gezielt daran.
Bisher versucht sie zumindest allein einzuschlafen, auch wenn wir seither stundenlang wach liegen. Irgendwann schläft sie dann tatsächlich wieder ein.
Ich danke dir herzlich für dein Input

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Re: Bindungstheorie

Antwort von Ruto am 04.07.2021, 1:09 Uhr

Wenn du auf den sogenannten bindungs-/bedürfnisorientierten Ansatz heraus willst, lass dir sagen, dass dabei auch DEINE Bedürfnisse mit berücksichtigt werden müssen. Aus der entwicklungspsychologischen Perspektive heraus wird sie erst nach und nach mit ihrem Frust umgehen lernen. Aber sie kann auch jetzt bereits an Grenzen stoßen und dabei feststellen, dass ihre Bezugspersonen (du) dennoch verlässlich sind.

Ich denke, du machst alles bzw vieles sehr sehr richtig. Aber lass dich nicht von deiner Angst vor der unsicheren Bindung leiten. Hast du eine Möglichkeit, deine Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend professionell aufzuarbeiten? Ein TherapeutIn kann dir helfen, deine Ängste zu bewältigen und gelassener mit deinem Kind umzugehen. Dann geht es dir besser, wovon auch dein Kind profitiert.

Dann zum High Need/Schreibaby Anteil: Versuche so viel wie möglich Unterstützung zu bekommen. Lässt sich dein Kind nur von dir beruhigen, kann der Papa was im Haushalt übernehmen, wozu du nicht kommst. (Beispiel)
Auch eine Schlaf-/Schreiambulanz kann (muss nicht) ein Ort sein, wo du neue Impulse bekommst. Wenn es dir nicht hilft, ist auch nichts verloren. Vielleicht hat auch die Tagesmutter eine Idee, wo du dir vor Ort Hilfe wegen der Schreianfälle holen kannst. Oft hilft ja schon zu verstehen was passiert, wie das entwicklungsbedingt zusammenhängt, um durchzuhalten und dabei möglichst gelassen zu bleiben.

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