Chronisch kranke und behinderte Kinder

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Geschrieben von Sabrinau am 18.02.2003, 22:01 Uhr

Mehr Verständnis für Mütter, die ein behindertes Kind abtreiben lassen

Hallo!

Ich stöbere nun schon seit längerer Zeit in diesem Forum herum, ohne mich bislang selbst zu Wort gemeldet zu haben. Da hier vor wenigen Wochen mal wieder - wie in regelmäßigen Abständen scheinbar immer - eine Abtreibungsdebatte entbrannt ist, möchte ich mich als Mutter eines geistig behinderten Sohnes auch mal dazu äußern.
In diesem Forum gibt es anscheinend viele Mütter, die strikt gegen Abtreibung sind - egal wie behindert das Kind auch sein mag. Diesen Müttern möchte ich sagen, dass es eine ganze Reihe von Stoffwechselerkrankungen gibt, die zu einem langsamen, qualvollen Tod bei den betroffenen Kindern führen. Sie erreichen das Jugendalter zumeist nicht. Ich finde es daher gut, dass es inzwischen möglich ist, viele dieser entsetzlichen Krankheiten per Fruchtwasseruntersuchung zu erkennen und die betroffenen Eltern sich daraufhin zu einem Abbruch entscheiden können. Wer möchte seinem Kind ein so qualvolles Leben schließlich nicht ersparen wollen?
In diesem Forum haben schon viele Frauen gepostet, die verzweifelt sind, weil sie durch eine Fruchtwasseruntersuchung die Gewissheit erhalten haben, ein behindertes Kind zu erwarten. Oft wird ihnen in diesem Forum dazu geraten, ihr Kind auszutragen. Selten werden die Vorteile eines Abbruchs aufgeführt. Tut eine Frau es doch, wird sie von den anderen „niedergemacht". Das finde ich nicht in Ordnung!
Eine Frau, die sich für ein behindertes Kind entscheidet, trägt eine große Verantwortung, die sich mit der für ein nicht behindertes Kind überhaupt nicht vergleichen lässt. Warum? Ganz einfach: Ein geistig behinderter Mensch wird fast immer ein Leben lang in Abhängigkeit von seinen Eltern leben müssen - sowohl finanziell als auch in emotionaler und sozialer Hinsicht. Ein geistig behindertes Kind ist noch mehr als ein nicht behinderter Altersgenosse darauf angewiesen, ein intaktes Elternhaus und ein stabiles soziales Umfeld zu haben. Kann die Mutter ihm das ein Leben lang gewähren? In einer Zeit, in der jede zweite Ehe geschieden wird?
Es wird hier immer nur von dem „behinderten Baby" und dem „behinderten Kind" gesprochen. Dabei wird völlig vergessen, dass ein behindertes Kind nicht immer Kind bleibt, sondern auch mal erwachsen wird. Und das ziemlich schnell, denn die Kindheit nimmt bei einem Lebensalter von 75 Jahren höchstens ein Fünftel des gesamten Lebens ein. Das heißt, mehr als 80 % unseres Lebens sind wir erwachsen!!
Zudem endet die Kindheit in der heutigen Zeit immer früher. Mädchen, die mit elf ihre Periode bekommen, sind nicht mehr in der Minderheit. Eine 14Jährige, die bereits erste sexuelle Kontakte gehabt hat, ebenfalls nicht.
Auch behinderte Kinder kommen in die Pubertät - oft sogar schneller als ihre nicht behinderten Altersgenossen. In der Pubertät aber fangen für viele Eltern geistig behinderter Kinder die Probleme erst an. Wer zum Beispiel ein geistig behindertes Mädchen hat, wird der Tochter vielleicht im Teenageralter die Monatsbinden wechseln müssen, weil sie es selbst nicht kann. Die Mutter wird auch dafür sorgen müssen, dass die Tochter regelmäßig die Pille nimmt oder die Spirale eingesetzt bekommt, damit sie nicht ungewollt schwanger wird. Die Mutter eines geistig behinderten Jungen wird sich dagegen vielleicht ängstigen, weil ihr Sohn in der Pubertät einen starken Trieb entwickelt hat und kein Ventil dafür findet. Wie wird er seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen können? Wie kann sie ihn davor bewahren, sich sexuelle Lust mit Gewalt zu verschaffen?
Eine Fülle von Problemen kommen auf die Eltern zu: Viele geistig behinderte Kinder
können nicht die Regelschule besuchen, oft ist nicht einmal die Förderschule drin.
Was aber kommt nach der Schule? Endstation Behindertenwerkstatt?! Dort verdienen die meisten Behinderten derart wenig, dass sie davon keinen eigenen Hausstand gründen können - selbst, wenn sie es wollten. Sie bleiben ein Leben lang auf die Unterstützung der Eltern angewiesen. Doch auch geistig Behinderte haben oft den Wunsch nach Unabhängigkeit und möchten das Elternhaus verlassen, vielleicht eine eigene Familie gründen. Den meisten bleibt dieser Wunsch jedoch versagt, da sie nicht in der Lage sind, für eine Familie emotional und finanziell zu sorgen. Viele von ihnen sind aufgrund ihrer Behinderung auch gar nicht in der Lage, ein Kind zu zeugen oder zu gebären. Psychische Probleme bleiben da nicht aus.
Problematisch ist, dass die Abhängigkeit von den Eltern zumeist bis ins hohe Erwachsenenalter bestehen bleibt. Diese Abhängigkeit kann zu großen Spannungen zwischen Eltern und ihren behinderten Kindern führen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn auch noch nicht behinderte Geschwister da sind, denen als junge Erwachsene die Welt offen steht.
Sind die Eltern irgendwann zu alt für die Pflege geworden oder gar gestorben, bleibt für geistig behinderte Erwachsene oft nur das Heim als Endstation. Im Zuge der Sparmaßnahmen unserer Regierung können wir allerdings nicht mehr davon ausgehen, dass die liebevolle Fürsorge geistig Behinderter auch außerhalb der Familie künftig noch gewährleistet sein wird.
Fazit: Das Leben geistig behinderter Menschen ist vielen Einschränkungen unterworfen, die mit zunehmendem Alter immer größer werden.
Ich möchte es noch einmal betonen: Die meiste Zeit unseres Lebens sind wir nicht Kind, sondern erwachsen. Ein geistig behinderter Mensch bleibt in gewissem Sinne aber immer auf der Stufe eines Kindes stehen - er wird niemals wirklich erwachsen werden und die Verantwortung für sein Leben selbst übernehmen können. Er braucht daher die Geborgenheit einer intakten Familie. Er braucht ein gutes Elternhaus. Vermutlich ein Leben lang...!
Eine Frau, die ein behindertes Kind erwartet, sollte auch auf diese Hürden und Probleme aufmerksam gemacht werden. Dazu hat sie meiner Meinung nach ganz einfach ein Recht!
Ich möchte mein behindertes Kind sicherlich nicht missen und liebe meinen Sohn über alles. Trotzdem: Hätte ich in der Schwangerschaft von seiner Behinderung erfahren, hätte ich sicher abgetrieben. Ich habe vollstes Verständnis für Frauen, die ein geistig behindertes Kind abtreiben lassen, weil sie die Last der Verantwortung nicht tragen können - ob nun finanziell oder emotional.
So, das musste ich mal loswerden.

 
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