Rund um die Erziehung

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Geschrieben von AyLe am 27.11.2007, 20:45 Uhr

ein Plädoyer für die Kindheit... LG, AyLe

Abraham macht mobil



Englisch für Säuglinge, Potenzialanalysen bei Dreijährigen: Der Nachwuchs wird zum Humankapital degradiert. Ein Plädoyer für den Mut zum Ungehorsam
VON ALEXANDER PROVELEGIOS UND PETER KÖPF





WÄRE DOCH GELACHT: Die Kleinen werden weniger. Gerade deshalb haben Politik und Wirtschaft Großes mit ihnen vor.
Foto: Norbert Schäfer


„Kinder sind unsere Zukunft.“ Das haben wir zu oft gehört, um es ernsthaft zu hinterfragen. „Unsere Zukunft“ – was könnte damit günstigstenfalls gemeint sein: allgemeiner Wohlstand, Arbeit für alle und sichere Renten? Der Umkehrschluss, „wir sind die Vergangenheit unserer Kinder“, ist weniger populär. „Wir“ – wer ist das: Reiche, Angehörige der Mittelschicht, Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende, Familien mit Armutsrisiko, Patchworkfamilien, kinderlose Singles? Angesichts dieser Vielfalt von Lebensmodellen und den daraus entstehenden Herausforderungen fällt es schwer, an ein „Wir“ zu glauben und sich in der Gegenwart in die Vorstellung einer kollektiven Identität zu flüchten. „Wir“ sind offenbar unterschiedlich, und folgerichtig bescheinigen auch aktuelle Studien wie die von World Vision Deutschland ein großes soziales Gefälle und undurchlässige gesellschaftliche Strukturen.

Doch es gibt etwas, was uns alle verbindet: eine Wirtschaft, deren Interessenvertreter und Statthalter in Politik und Medien inbrünstig argumentieren, Wirtschaftswachstum und Standortqualität stünden über allem. Im Fokus des Übernahmeversuchs der Wirtschaft steht der Bildungssektor. Ganz konsequent werden von Wirtschaftsinstitutionen wie dem Bundesverband Junger Unternehmer, der DIHK Hamburg oder dem Deutschen Aktieninstitut die Bildungsziele und -inhalte in Kindergarten und Schule im Sinne des Leistungsgedankens umdefiniert, damit die Kinder in Siebenmeilenstiefeln herangeführt werden an ihre volks- und betriebswirtschaftlichen Aufgaben. Das Lieblingswort, „alternativlos“, gibt dabei fast jeder vorgeschlagenen Maßnahme enormes Gewicht.


Ganz vorn im Rattenrennen

Es gilt als opportun, Kleinkinder Potenzialanalysen zu unterziehen. Bücher mit Checklisten, was ein Kind angeblich bis sieben alles abgehakt haben muss, fehlen in kaum einem Elternhaus. Wir nehmen als selbstverständlich hin, dass internationale Wirtschaftsorganisationen unser Bildungssystem testen und geißeln. Deutsche Elternteile radebrechen mit ihren Sprösslingen an der Kindergartengarderobe auf Englisch, Spanisch oder Portugiesisch, als hätten sie über Nacht ihre Muttersprache verlernt. Wir haben gelernt, das sei das Beste für unsere Kinder, und deshalb verfolgen wir dasselbe Ziel: uns und unsere Kinder in diesem Rattenrennen um Geld und Bildung mit denselben Mitteln weit nach vorn zu bringen.

Alle? Nicht alle! Manche machen es wie Abraham: Wehren statt Nicken. Wir kennen Abraham als perfekten Untertan, der bereit war, seinen Glauben zu beweisen, indem er seinen Sohn opferte. Diese Bibelgeschichte hat Generationen von Kindern eine Heidenangst eingejagt. Doch wahrscheinlich war alles ganz anders: Abraham opfert seinen Sohn nicht! Dazu gehört eine Menge Zivilcourage für einen Mann, der in einer Kultur lebt, in der Menschenopfer, wie Theologen und Altertumsforscher herausgefunden haben, verbreitete religiöse Praxis waren. „Kindesopfer“, schreibt der heute in Zentralamerika lebende deutsche Wirtschaftswissenschaftler Franz Hinkelammert in „Der Glaube Abrahams und der Ödipus des Westens“, „hatten eine ungeheure Anziehungskraft gerade auf Autoritäten, die ständig dazu neigten, in Autoritätskrisen darauf zurückzugreifen.“

Aber Abraham spielt nicht mit. Als er seinen Tribut leisten soll, sucht er nach einem Ausweg, um das von ihm erwartete Kindsopfer abzuwenden. Flieht er, verzichtet er auf seinen Status, sein Haus, seinen Hof und sein Land. Spielt er den Revolutionär, riskiert er das Leben seiner Familie. Der listige Abraham entscheidet sich für einen dritten Weg: Er akzeptiert scheinbar das Verdikt, sattelt die Esel und nimmt Isaak sowie als Zeugen seine beiden Knechte mit in die Wildnis. Als er sicher ist, mit seinen Begleitern allein zu sein, lässt er auch die Knechte zurück. Dann legt er nicht seinen Sohn auf den Scheiterhaufen, sondern einen Widder, der sich mit den Hörnern im Dickicht verfangen hat. Den überraschten Knechten tischt er auf dem Heimweg eine martialische Geschichte auf, von Engeln, die herniederfuhren, vom Himmel, der sich verdunkelte, von Gott persönlich, der seine Hand zurückhielt und so weiter.

Die Elternsituation von heute ist ähnlich, nur die höchste Instanz hat gewechselt. Der alttestamentarische Gott wurde abgelöst vom Deus Oeconomicus, der uns lehrt, an den Wert des Kapitals zu glauben. Und zwar so konsequent, dass auch der Mensch mit seinem Wissen und seiner Arbeitskraft seinen Wert an sich verloren hat und in harte Währung umgerechnet wird. Das Ergebnis ist Hu-mankapital, Unwort des Jahres 2004, das mithilfe von Human Capital Resource Management Software profitmaximierend und prozessoptimierend gesteuert wird. Erst haben wir das Geld erfunden, jetzt erfindet das Geld uns neu. Doch wir müssen keine Revolutionäre sein, um alternative Wege zu finden durch das angeblich alternativlose System.


Sieben Wegweiser

1. Nur das Beste für unsere Kinder zu wollen ist zwar lobenswert, aber unsinnig. Nicht mehr aufgrund unserer Erfahrungen, Bedürfnisse und Hoffnungen zu entscheiden, sondern alles dem vermeintlichen Wohl des Kindes unterzuordnen, macht unsicher und damit manipulierbar.

2. Schauen Sie genau hin, nach welchen Kriterien die Wirtschaft Noten verteilt. So wurden bei der ersten Pisa-Studie 15-jährige deutsche Neuntklässler mit den in der Regel ein Jahr früher eingeschulten englischen oder holländischen Zehntklässlern desselben Alters verglichen. Den Schluss, dass Kinder auch in Deutschland früher in die Schule gehen sollen, hätte aber nur ein Test legitimiert, in dem die Leistungen 15-jähriger denen 16-jähriger Zehntklässler gegenübergestellt werden und diesen überlegen oder zumindest ebenbürtig sind.

3. Sind Kinder zu wichtig, um sie ihren Eltern zu überlassen? In der DDR übernahm deshalb der Staat die Erziehungsaufgabe, heute hält sich die Wirtschaft diesbezüglich für kompetent. Deshalb kehren längst unter kapitalistischem Tarnkäppchen viele Maßnahmen zurück, die freie Marktwirtschaftler in der DDR kritisiert haben: flächendeckende Ganztagskinderbetreuung, um Erziehung zu kontrollieren und die Produktivkraft der Frauen zu entfalten, Frühförderung und Spezialisierung, technische und naturwissenschaftliche Ausrichtung der Lehrpläne, Standardisierung von Bewertungen sowie der Verzicht auf föderale Sicherungssysteme. Etiketten können täuschen: Wo Freiheit draufsteht, ist nicht immer Freiheit drin.

4. Lassen Sie sich nicht einreden, welche Fachleute oder Kompetenzen unsere Gesellschaft oder die Welt übermorgen benötigt. Die sozialistischen Staaten waren Profis in Sachen Planwirtschaft und lagen mit ihren auf überschaubare Intervalle beschränkten Fünfjahresplänen dennoch regelmäßig daneben. Ärzteschwemme, Lehrermangel und umgekehrt – das sind Ergebnisse eines prozyklischen Verhaltens, wenn zu viele Leute auf wenige Schlaumeier hören.

5. Sie und Ihre Kinder haben Zeit, vielleicht mehr, als Ihnen lieb ist. Schätzungsweise jedes dritte Kind wird 100 Jahre und älter. Der deutsche Arbeitsmarkt dagegen sortiert aktuell bereits Mittfünfziger rigoros aus. Am Ende eines jeden Lebens wollen statistisch fast dreißig Jahre mit sinnvoller Tätigkeit und produktiven Aufgaben gefüllt werden. Ob ein Kind da mit 17 oder 18 die Schule abschließt, ist irrelevant. Lassen Sie sich nicht drängen, treffen Sie Ihre Entscheidungen für sich und Ihre Kinder in Ruhe.

6. Freies Spiel ist die Grundlagenforschung der Kinder. Freie Bildung das Fundament des Fortschritts. Haben wir Vertrauen in die natürliche Vielfalt menschlicher Entwicklung und damit in die Grundlage unseres pluralistischen Systems und unserer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Geben wir Kindern die Möglichkeit, ihre Neigungen zu entdecken, nicht nur die Fähigkeiten zu entwickeln, die wir momentan für wichtig halten.

7. Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen. Kinder sind nicht unverwundbar, aber ganz so einfach zu steuern oder gar zu deformieren sind sie auch nicht, sonst wäre zumindest die menschliche Evolution längst an vermeintlich wohlmeinenden, aber – wie sich später herausstellte – irregeleiteten Erwachsenen gescheitert. Schaffen Sie Frei- und Schutzräume für sich und die Kinder. Bleiben Sie entspannt im allgemeinen Rattenrennen.

Altertumsforscher haben herausgefunden, dass ungefähr zu Abrahams Zeiten Menschenopfer durch Tieropfer ersetzt wurden. Nehmen Sie ihn zum Vorbild, auch wenn Sie nicht gleich die Weltgeschichte, sondern nur Ihre eigene und die Ihrer Kinder verändern wollen.
Zum Weiterlesen: Alexander Provelegios, Peter Köpf: Wir wollen doch nur ihr Bestes. Europa-Verlag, Hamburg 2002. 191 Seiten, 14,90 Euro.

Quelle: http://www.merkur.de/2007_45_Abraham_macht_mob.24499.0.html?&no_cache=1

 
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