Rund um die Erziehung

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Geschrieben von roma am 02.11.2006, 21:58 Uhr

sorry, mehr Nachfragen (Nichterziehung, die 100.)

Nabend!

So, ich hatte echt Mühe, heute die ganze Diskussion noch mitzuverfolgen, weil ich bis eben arbeiten musste (oder vielleicht durfte?) und mich dann nachträglich durch 1000 Threads wühlen musste. Und ich versuche zu verdauen, was da so geschrieben wurde. Einigiges schmeckt gut, anderes bleibt mir im Hals stecken und wieder anderes erscheint mir gänzlich unverdaulich - ich bitte um Aufklärung. Widersprecht mir!

Wenn ich alles richtig verstanden habe, geht es doch darum, meine Kinder nicht zu erziehen, sondern ihnen durch mein eigenes Vorbild und Vorleben zu zeigen, wie schön und befriedigend es sich mit meinen Werten, wie z.B. - ich würfel mal wild durcheinander - Respekt und Achtung vor anderen, gesunder Ernährung, wenig Fernsehkonsum, vielleicht andere Sekundärtugenden wie Pünktlickeit etc. pp. - lebt. Prima - das hab ich auch vor. Aber taugt das als KONZEPT? Was ist mit den Familien, in denen es diese Werte nicht gibt? Wo den ganzen Tag der Fernseher läuft und kein soziales Miteinander stattfindet, der große Bruder in der Schule kleine Kinder verprügelt, es keine gemeinsamen Mahlzeiten gibt, der Respekt vor anderen an der Schwelle zur Haustür aufhört und Demokratie oder Gleichberechtigung Fremdwörter sind? Es sind doch nicht wenige Familien, die so leben. Sollte ein KONZEPT nicht für alle gelten? Oder haltet ihr diese "Tugenden/Werte" für erstrebenswert?
Mama Heike sagt "Die Kinder leben doch selbstverständlich in meinem Leben mit und übernehmen meine "Lebensart". Und weil ich nicht assozial lebe, benehmen sie sich auch nicht so" - fein, ich ja auch nicht, und die meisten im Forum vermutlich nicht - aber etliche Familien tun das.
Daraus folgere ich: 1. Das Konzept ist verflucht ELITÄR.

Anderes Problem: Mein Kind bekommt nicht nur mein Leben vorgelebt, sondern wird zum größten Teil ab Kindergartenzeit auch durch Erzieher, Lehrer, Mitschüler, Freunde, Fernsehen etc. sozialisiert und auch erzogen. Das kann ich doch gar nicht verhindern.
Daraus folgere ich: 2. Das Konzept ist nur EINGESCHRÄNKT umsetzbar, weil ich mein Kind nicht von anderen "Erziehern" fernhalten kann.

Wieder anderes Problem: Pubertät. Ich habe das Gefühl, damit soll das Konzept immer schmackhaft gemacht werden - Eltern, verzichtet auf Erziehung, dann habt ihr keinen Ärger mit den Kids in der Pubertät (was ist das für ein Konzept, dass eine Belohnung in Aussicht stellen muss, anstatt durch sich selbst zu überzeugen?). Aber ich frage mich: Sind das Fakten oder Vermutungen, dass die Pubertät ausbleibt? Ich wurde so frei wie nur denkbar erzogen (keine Strafen, keine Verbote, keine Konsequenzen, keine Ablenkungen, keine Täuschungen - nur Ratschläge, Hilfen, Vorleben) - und ich habe pubertiert wie Sau. Dabei ging es nicht darum, dass ich irgendwelche Tricks in der Erziehung meiner Eltern plötzlich wütend durchschaut habe, sondern nur darum, mich mit Gewalt von ihnen zu lösen und Gründe zu finden, sie nicht mehr zu mögen - weils alle taten (Peergroup). Und ich war stinksauer, weil sie so aalglatt waren und mir keinen Grund lieferten ("ihr müsst doch nicht heimlich draußen rauchen, kommt doch rein")
Daraus folgere ich: 3. Das Konzept scheitert ebenso an der Pubertät wie alle anderen ;-) - zumindest fehlen mir hier Fakten und Quellen.

Mein allerallergrößtes Problem: Die meisten Menschen sind eher hedonistisch veranlagt und das kurzzeitige Vergnügen steht dem längerfristig (planbaren) Wohlbefinden gegenüber - das ist meine Lebenserfahrung. Meine Beispiele:
Ich selber habe viel und exzessiv Computer gespielt (ich würde sogar von Sucht sprechen) und es hat mich sehr viel Kraft gekostet, davon loszukommen, meine regulierenden Instanzen zu aktivieren und mir selbst einen Tritt in den Hintern zu verpassen! Ich habs geschafft! Manche meiner Freunde aber nicht. Denen geht es jetzt finanziell nicht so gut und die sind alles andere als zufrieden mit ihrem Leben. Meinem Exfreund beispielsweise, der immer frei zugab, dass ihn gewisse Computerspiele mindestens 2 Semester Uni gekostet haben - prima, würdet ihr sagen, wenns ihm so gefiel. Ja, aber Mama und Papa mussten das Studium finanzieren, denn Sohnemann konnte ja nicht arbeiten, weil er eben Computer spielte (das hat in diesem Fall Mama und Papa gar nichts gemacht, denn sie standen auf antiautoritäre Erziehung, aber wenn ich Elternteil wäre, würde mir das sehr wohl etwas ausmachen.)
Das sind Erwachsene - okay, ihr würdet sagen, naja die durften das vorher nicht ausleben ... nö, ich durfte und wie gesagt mein Ex durfte sowieso alles von Hause aus.
Oder: Mit auf Klassenfahrt war ein Schüler (ich nenn ihn Gustav), von dem ich wusste, er wird nicht erzogen ("der Gustav entscheidet selbst, wann er ins Bett geht"). Mal davon abgesehen, dass ein "Nichterzogener" in einer Klassengemeinschaft von "Erzogenen" schwer zu organisieren ist ("warum darf Gustav erst ins Bett, wann er will und wir nicht?") - habe ich wenig regulierend eingegriffen: Gustav hat beschlossen, dass sein Computer mit muss auf Klassenfahrt (auf einen Bauernhof). Er fühlte sich danach, bis morgens um 3 Computer zu spielen. Keine Sau wollte mit Gustav aufs Zimmer, weil er so viel Computer spielt. Gustav hatte Lust sich von Chips zu ernähren, zu den gemeinsamen Mahlzeiten wollte er nicht erscheinen, das empfand er als lästig. Festigt seinen sozialen Stand in der Klasse ganz ungemein. Eine Wanderung musste er fast abbrechen, weil er (Chips? Computer?) den Berg nicht hochkam (eine Aufsichtsperson abgestellt für ein nichterzogenes Kind - aber okay, wären alle nichterzogen, würden vermutlich alle den Berg hochächzen, dann wäre die Truppe wieder beisammen, ist also kein Argument).
Ist das erstrebenswert? Oder anders gefragt: Ist es so viel besser, als weiter blickender Erwachsener NICHT regulierend einzugreifen und das Kind mal machen und entscheiden zu lassen, als hin und wieder zu stupsen und eine längerfristige Freude zu gewähren?
Gegenargument "das lernt Gustav später, wenn er merkt, dass er fett und einsam ist!" So wie das Beispiel mit dem "manierlich essen", wenn man denn mal zum Geschäftsessen eingeladen ist. Klar, "manierlich essen" lernt ein 18jähriger in 30 Minuten, aber soziale Fertigkeiten müssen lange eingeübt werden.
(Übrigens keine Sorge: Gustav kriegt den Bogen noch, der hat ein solides Elternhaus, das ihn (sozial, finanziell) immer wieder auffangen kann, aber so viele haben das nicht!)
Oder Gegenargument "hey Dickleibigkeit und Einsamkeit, vielleicht sind das genau die Werte, auf die Gustav steht, who am I to judge?" lass ich mal so stehen. Ich denke, es gibt Werte, über die man nicht streiten muss.

Das Beispiel mit dem Klavierspielen von Frosch blieb leider unkommentiert, oder habe ich was überlesen? Das ist doch meines Erachtens genau der Punkt: Was, wenn ich als Erwachsener mit etwas mehr Lebenserfahrung und v.a. mehr Menschenkenntnis weiß, dass in einem speziellen Fall das kurzfristige Unbehagen (Klavierüben) eine längerwährende Freude (Kavier spielen können) mit sich bringt? Auch Klavier lerne ich mit 20 nicht mehr so schnell und leicht wie als Kind.

Unsere Welt hält ein solches Überangebot an kurzzeitigen Vergnügungen bereit, dass es unglaublich schwierig ist, dem zu widerstehen. Wenn Erwachsene daran scheitern, wie soll das ein Kind meistern? Ich bekomme jedenfalls Gänsehaut, wenn ich lese, dass ein Kind zu 99% vorm Rechner isst. Vielleicht gibt es diese Kinder, die ihre Verlangen nach oberflächlichen Vergnügungen so weit im Griff haben, dass sie diese halbwegs kontrollieren können - die meisten sicher nicht!
Mathildas Mama sagt "Du gehst von einer falschen Voraussetzung aus. Du gehst davon aus, daß aus einem Kind ein eigennütziger, egozentrischer, schmarotzender Erwachsener werden würde, würden wir Eltern es nicht zwingen, anders zu werden. Das ist falsch. Kinder WOLLEN wertvolle, soziale Mitglieder der Gemeinschaft werden. Sie WOLLEN ihren Teil dazu beitragen, dazu mußt Du sie nicht zwingen." Na klar, das will sicher jeder! Aber an erster Stelle steht die Welt mit ihren kurzen Freuden und das ist richtig so, wozu ist man Kind.
Und ich halte es auch für wenig kindgerecht, diese Regulation von Kindern zu verlangen - sollen die Kinder doch eben Kind sein und sich vergnügen wie sie können und wollen, aber eben im Vetrtauen darauf, dass Mama und Papa regulierend eingreifen, wenn sie es zu bunt treiben - das bin ich meinen Kindern, denke ich, schuldig - als weiterblickender Erwachsener!.

Und vergesst bitte nicht, wie unser Arbeitsmarkt aussieht. Warum soll ein Kind Hausaufgaben machen, wenn es nicht will, eine Ausbildung machen, Schreibmachine schreiben lernen, undsoweiter - lasst es die Erfahrung machen jeden Tag Computer zu spielen, Drogen zu nehmen, zu tun was Spaß macht - genug zu Leben hat es in jedem Fall? Nein, das denke ich nicht. Nicht heute und in dieser Gesellschaft. Das Risiko, ohne einen Pfennig Geld und Unterstützung dazustehen oder ins soziale Abseits zu gelangen ist zu groß.

Daraus folgere ich: 4. (mal ganz negativ formuliert) Das Konzept entlässt Erwachsene aus ihrer Verantwortung (und Pflicht?) Kindern vernünftige Verhaltensmuster zu unterbreiten, die ein längerfristiges Glück fördern können und kommt damit eigentlich den Bedürfnissen der Kinder gerade nicht entgegen.

Mein Fazit:
Die Nichterziehung ist eine elitäre Art des Zusammenlebens mit (Einzel)Kindern für sozial besser gestellte "bildungsnahe" Familien. Damit versagt es m.E. als universales "Konzept". Ganz fies gesagt: es ist für mich eine elegante Art sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wir sind Erwachsene - die Kinder nicht. Die bildungsnahe Variante eines Laissezfaire. Ein luxuriöses Nichtkonzept.

Versteht mich bitte nicht falsch, ich neige auch zum wenig erziehen - sowohl bei unserer Tochter (die allerdings erst 7 Monate ist) als auch im Job. Aber als KONZEPT möchte ich diese Art der Erziehung nicht verstanden wissen, da hätte ich angesicht meiner Berufserfahrung irgendwie Bauchschmerzen.

lg - roma


P.S.: Ich finde diese Diskussion übrigens klasse, egal, was manche Mamis sagen

 
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