Rund um die Erziehung

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Geschrieben von stemu am 17.07.2007, 14:18 Uhr

@ Solelo

Danke für Deinen sehr langen Beitrag bezüglich Über-die-Strasse-gehen, Zähneputzen, Hundekacke, etc. Ich habe mich sehr darüber gefreut und finde es sehr spannend. Bisher gab es noch nicht wieder die Gelegenheit es auszuprobieren, aber es wird nicht lange dauern, bis es dazu kommt. Sehr zum Nachdenken hat mich auch Deine Nebenbemerkung bezüglich "Extra-Vorbild" sein. Bei mir ist es schon so, dass ich einige Dinge vermeide und eher "heimlich" mache. Z.B. Süssigkeiten essen, weil ich nicht will, dass auch er so "süssigkeiten-abhängig" wird wie ich. Wenn er mich jeden Tag tafelweise Schokolade-essen sehen würde, wäre das doch wohl nicht gut, oder? Oft denke ich, ich sollte es mir schon wegen ihm abgewöhnen. Aber ohne jetzt die Schokolade zu reduzieren, wie würdest Du die Situation mit Deinem Sohn gestalten? Wenn mein Sohn mich etwas essen sieht, will er es eigentlich automatisch auch haben.

 
1 Antwort:

Re: @ Solelo

Antwort von solelo am 17.07.2007, 20:47 Uhr

Liebe Stemu,

Weil DU ein Problem mit Schokolade hast, willst du IHN davor bewahren. Wahrscheinlich hast aber DU das Problem, weil du auch davor "bewahrt" wurdest! (Andere Gründe können sein, dass bestimmte Bedürfnisse von dir damals oder auch heute noch oder jetzt erst nicht gestillt werden und du mit der Schokolade lange Zeit ein Ventil hattes/hast. Sucht hat immer was mit Mangel an irgendwas anderem zu tun. Sucht entsteht nicht bei ausgeglichenen Menschen – wenn dein Schoko-Konsum überhaupt eine "Sucht" ist) Das Davor-Bewahren klappt einfach nicht – die Sache wird erst recht zur "verbotenen Frucht".

Außerdem: Was sagt denn dein Gefühls-Warnsystem, wenn du heimlich isst? Hast du Schuldgefühle? Hast du ein bisschen Stress (du könntest erwischt werden)? Fühlt es sich "gut" an?

Denk dran, "gut" ist nicht das, was unsere Gesellschaft als "richtig" anerkennt, sondern das, womit dein Bauch ruhig und in seiner Mitte ist, oder auch, womit es glücklich ist.

Anders verhält es sich, wenn du einfach natürlich lebst und am "Spiegel" deines Kindes erkennst, dass deine Verhaltensweisen zu überdenken sind. Dann bist du aber auch kein "Extra Vorbild" mehr, sondern du arbeitest ernsthaft an einer Veränderung AN DIR (nicht am Kind!)

Schlimmstenfalls macht er noch andere Erfahrungen:

- Es ist OK, "heimlich" Schokolade zu essen, offen nicht (auf diesen Schluss kommt er außerdem doch sowieso. Meine Tochter hat mir neulich verraten, zu Erziehungszeiten hätte sie sich heimlich Schokolade und andere Süßigkeiten geklaut und im Zimmer versteckt und heimlich gegessen. Sie konnte mir nicht sagen, dass ihr davon nicht schlecht wurde, weil sie dann hätte zugeben müssen, dass sie das heimlich und verbotenerweise tat. Ich stelle mir vor, dass so was auch totaler Stress für die Kinder bedeutet, so was heimlich tun zu müssen.)
- In Eltern-Kind-Beziehungen kann man kein echtes Vertrauen haben. Mama vertraut mir nicht, ich kann Mama auch nicht trauen.


Es reduziert sich für mich auf die Frage: Was willst du für eine Beziehung zu deinem Kind haben – eine ehrliche? eine vertrauensvolle? eine, die von Heimlichkeiten und unehrlichen Vorbildern geprägt ist? Dann doch lieber schauen, wo man eigentlich SELBST ein Problem hat, dass man zu "ungesunden" verhaltensweisen zurückgreift. Es ist wie bei Kindern: sog. "Fehlverhalten" tritt da auf, wo die Bedürfnisse nicht gestillt werden.

ABER – vielleicht solltest du auch beobachten, ob dein Verhalten wirklich zu "krankhaft" ist. In der Unerzogen-Mailingliste (bist du schon drin?) ging neulich ein Buch-Titel rum: "Esst endlich normal!", vielleicht kannst du da Mal schauen, ob das was für dich ist.

Essen, Trinken, Schlafen, Lernen – alles Ur-Bedürfnisse des Menschen, die gar nicht reguliert werden müssen. Sie sind an unsere Instinkte und unseren Körper und Geist gekoppelt. Kriegen sowohl Körper und Geist die Chance, ihre ECHTEN Grenzen zu testen (das geht nur, wenn die Grenzen nicht fremdbestimmt werden), kann ein (noch) feinfühliges Kind sehr wohl ein *Gefühl* für alles entwickeln bzw. sein eigenes "ausbilden": wann es müde ist, wann was kalt ist, wann was zu warm ist, wann was ungesund ist, wann man genau hunger hat und auf was genau, was einem gut tut und was nicht, wie viel Freiluft man braucht, wie viel soziale Kontakte, wie viel Schlaf und wie oft, wann man was am besten lernt, wie und wo etc.

Diese Erfahrungen nimmt man dem Kind durch Erziehung, auch wenn man gute Gründe hat: es soll nicht frieren, es soll nicht zu müde sein, es soll nicht Bauchweh bekommen, es soll kein Versager werden....

Biete einfach viel Obst und Gemüse bzw. Gesundes an. Warum sind Süßigkeiten NOCH verlockend, zusätzlich zum "Süßen" und "Leckeren" und eventuell zur "Sucht"? – eine Sache wäre, dass sie besonders "praktisch" sind: Packung auf und zack. Nichts waschen, nichts schälen, schnippeln, zubereiten...

Biete deinem Sohn und dir selbst! bereits geschnittenes, gewaschenes Obst in Tupperdosen im Kühlschrank, z.B. Suche im Internet nach gesunden "praktischen" Snacks (z.B. kernlose Trauben einfrieren), die nur einen Handgriff entfernt bereit gestellt werden können. Wenn du Schokolade für schädlich hältst, dann sollten sie nicht im Hause sein. Dann würdest du autmatisch vorleben, wie du leben willst. Dein Kind wird sich an dir orientieren (vor allem dann, wenn du ihm die Freiheit lässt, dies zu tun!), ggf. aber auch hier und da andere Abzweigungen in seinem Weg wählen.

Bei Nichterziehung geht es selten darum, etwas *wegzunehmen*. Wenn eine Situation nicht annehmbar ist, versuchen wir, etwas *hinzuzufügen*. Mehr Angebot an Obst z.B. Neues Obst, anderes Obst, exotisches, Obst, leckereres Obst, anders zubereitetes Obst. In anderen Bereichen gilt das gleiche: Zu viel Fernsehen? Biete mehr Alternativen an, etc. Und: in Ruhe lassen. Geduld. Und sich selbst hinterfragen, aber auch selbst nicht erziehen!

Wenn man sich selbst einschränkt, wirkt meistens äußerer Druck. Dieser Druck wurde uns anerzogen bzw. das achten darauf. Es ist das, was wir immer und immer wieder hören. Und auch das, wovon viele von uns sooo gerne loskommen möchten. Wie ätzend ist es doch, an das denken zu müssen, was der Nachbarn wohl von uns denkt....

Und weil wir abhängig geworden sind von Meinungen anderer, und es uns selbst an Selbstvertrauen mangelt, und da wir nicht mehr auf unser Bauchgefühl vertrauen können, weil es sich nicht "ausbilden" konnte, machen wir immerzu weiter! Und doch möchten wir unseren Kindern die Chance geben, auf sich selbst achten zu können, selbst verantwortlich sein zu können und selbstbewusst eigene, freie Entscheidungen treffen zu können.

Mach dich frei von Erwartungen (das ist das Schwerste!!!!). Finde wieder zu dir selbst: Frag dich: Möchte ICH wirklich aufhören mit Schokolade? Bei mir hieß die Frage: Möchte ICH studieren oder wollten das eigentlich nur meine Eltern? Möchte ich ein perfektes erziehen, oder erwarten das andere? Sind es andere Leute, die meinen, ich sollte mit Schokolade aufhören, wegen meiner Gesundheit, oder wegen des Vorbilds an meinem Kind?

Erst, wenn du zu deinen eigenen, wenn auch in Augen anderer vielleicht "falschen" Entscheidungen stehen kannst, bist du wirklich *frei* zu entscheiden, was du tust und lässt. Und dann fällt es dir auch leichter, irgendwann zu entscheiden, dass du vielleicht KEINE Schokolade mehr isst. Du bist dann nicht mehr zwischen Erwartungen und Bedürfnissen gefangen, sondern kannst echte, kompetente, *eigene* Entscheidungen treffen. DAS ist ein viel wichtigeres Vorbild für dein Kind, als dass du keine Süßigkeiten isst. Denn wenn ER *frei* ist, kann auch ER bewusst über sich entscheiden! WARUM sollte er eine destruktive Lebensweise wählen, wenn er ausgeglichen und glücklich ist?

Grüße
Johanna
www.unerzogen.de

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