Rund um die Erziehung

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Geschrieben von +emfut+ am 03.05.2008, 14:51 Uhr

@ Feelix und Flocke

Feelix, ich sage Dir eines: Sag niemals nie. ;-)

Dein Posting hätte in großen Teilen vor drei oder vier Jahren von mir kommen können. Das ist im Grunde auch das, was ich mit der Wahl zwischen dem Teufel und dem Beezlebub sagen möchte: Ich mag unsere Lösung nicht. Aber ich sehe nicht rasend viele Alternativen.

Im Grund, wenn ich es jetzt so überlege, hat Fumi mir die Entscheidung recht einfach gemacht. Es ging nicht um einen theoretischen Selbstmord in 20 Jahren oder so, es ging um ihren ganz praktischen Selbstmordversuch vor etwa dreieinhalb Jahren. Man darf mich vielleicht also bissi beneiden *schiefgrins*.

Denn: Es geht ja immer um ein Abwägen. Und Abwägen ist immer subjektiv.
Vielleicht wäre eine andere Mutter anders mit Fumi umgegangen, und vielleicht hätte Fumi es mit einer anderen Mutter auch ohne Medis (ach so, dazu eine Anmerkung: Ich schreibe oft Medis, weil Methylphenidat so lang und Ritalin ein Markenname ist; das kommt manchen vielleicht wie eine Verniedlichung vor, aber es ist tatsächlich nicht mehr und nicht weniger als Faulheit) geschafft. Vielleicht.
Vielleicht wäre eine andere Mutter aber auch leichtsinnig mit dem Kind auf dem Balkongeländer umgegangen, hätte es als Pubertätsmarotte abgetan und Fumi wäre mit einer anderen Mutter heute tot. Vielleicht.

Ich habe dann auh noch das Glück, daß Fumi schon 9 war, als sie schließlich mit den Medis angefangen hat. Sie war sehr reflektiert (meine Gene *lach*) und hat sich selber sehr genau beobachtet. Der KiA war beeindruckt, wie genau sie die Änderungen bei Disoierungsänderungen beschreiben konnte. Das könnte ein Kleinkind sicher nicht, und manches ältere Kind oft auch nicht. die Entscheidung über die Einnahme oder Nicht-Einnahme lag und liegt in letzter Instanz immer bei Fumi. Und - was mich auch beruhigt - sie nimmt die Medis nicht gerne. Sie wägt das tatsächlich immer sehr genau ab.

Insofern bin ich wem-auch-immer dankbar, daß ich die Medis mit realtiv ruhigem Gewissen "in unsere Familie aufnehmen" konnte. Ich stelle mir vor, daß es ungleich schwerer ist, wenn der Leidensdruck bei den Eltern größer ist (wegen der unglaublich schweren Abwägung: "gebe ich das für mich oder für's Kind), wenn das Kind kleiner und/oder weniger reflektiert ist, wenn die Zeichen nicht so deutlich sind.

Bei Temi gibt es jetzt auch erste Anzeichen von ADS, aber MIT Hyperaktivität. Er ist erst 7, er ist auch von der Persönlichkeit her längst nicht so reflektiert, und er leidet selber fast gar nicht darunter. Derzeit gibt es gar keine Diskussion, er ist auch nicht diagnostiziert, und ich werde erst über eine Diagnose nachdenken, wenn der Leidendruck stark ist. Aber ich kann mit vorstellen, daß er es mir nicht so einfach machen wird, falls es denn mal so weit sein sollte. Mist, sowas *stirnrunzel*.

Ich habe auch eine Tendenz, auf Eltern "herabzusehen", wo die Sachlage weniger eindeutig ist als bei mir. Haben die sich so bemüht, die Medis zu vermeiden, wie ich es getan habe? Sind die nicht leichtfertiger als ich? Achten die auch ihren eigenen Leidensdruck, oder den ihres Kindes?
Aber ich reiße mich am Riemen, weil ich in diese Menschen nicht reinschauen kann. Wenn ich nicht so ein mitteilsamer Mensch wäre, wüßte ja keiner, was bei uns zu Hause abging. Und obwohl ich immer wieder als "Verteidigung", Erklärung, was-auch-immer erzähle, wie Fumi über'm Balkongeländer hing: Können die Menschen in meiner Umgebung wirklich nachvollziehen, was WIRKLICH passiert ist? Das war ja kein singuläres Ereignis, es war der Höhepunkt eines langen, dramatischen und fürchterlichen Weges, den ich in seiner ganzen Schrecklichkeit nie werde in Worte fassen können.
Es steht mir also nicht zu, einen einzelnen "Fall" zu beurteilen. Ich kann nicht sagen: Dieses Kind bekommt Medis zu recht, dieses aber nicht. Und deswegen gehe ich bei jedem Einzelfall erstmal davon aus, daß die Eltern sich mindestens so viele Gedanken gemacht haben wie ich (aber habe ich wirklich alle Alternativen bedacht und ausgeschöpft), daß sie bei mindestens so vielen Exterten waren wie ich (aber hätte ich diesen Arzt oder jenes Therapiezentrum nicht noch befragen sollen?) und sich die Entscheidung mindestens so schwer gemacht haben wie ich (aber habe ich mir die Entscheidung schwer genug gemacht?).

Ganz allgemein und auf keinen einzigen konkreten Fall bezogen: Ich bin mir sicher, daß manche Ärzte (!) sich das Ganze zu leicht machen. Und sicher gibt es auch Eltern, die es sich schwerer hätten machen können (wobei das schwerer zu beurteilen ist - vielleicht KÖNNEN sie einfach nicht anders mit einem schwierigen Kind umgehen - ich unterstelle ungerne mangelndes Wollen, denn ich weiß aufgrund meiner Depressionen sehr genau, daß mangelndes Können für Außenstehende oft wie mangelndes Wollen aussieht, das kann man von außen NIE NIE NIE unterscheiden).

Ach, und nochwas: Fumi bekommt neben den Medis diverse Therapien UND geht auf eine spezielle Schule. Leider hat das JA die Übernahme der Kosten für die Schule und einen Teil der Therapien abgelehnt, Widerspruch läuft, aber wenn der Widerspruch erfolglos ist, werde ich sie rausnehmen müssen, ich kann die Schule nicht länger selber bezahlen. Ich bin UNBEDINGT für eine Therapie neben der Medikation und hätte auch keine Probleme damit, wenn das zur Pflicht gemacht werden würde. Allerdings kostet das Geld, das müßte irgendwer in die Hand nehmen wollen.

Ich bekomme ja auch eine Therapie neben den Antidepressiva. leider läuft die Kassenübernahme Ende des Jahres aus, und das macht mir tatsächlich Angst. Ich gehe nicht davon aus, daß ich die Meids dann absetzen kann und fürchte sogar, daß ich die Dosis dann erhöhen muß.

Ach so, noch was wegen der Persönlichkeitsveränderung während der Depression: Das wurde mir von außen gesagt, das war nicht nur mein Gefühl. Als ich endlich anfing, die Tabletten zu nehmen, haben mir meine Eltern und meine Schwestern unabhängig voneinander gesagt: "Endlich bist Du wieder so wie früher!" Aber auch da bleiben Restzweifel: Vielleicht bin ich jetzt endlich wieder so, wie meine Eltern mich haben wollen, und wie ich während meiner Kindheit und Jugend ich mich bemüht habe zu sein, um ihnen zu gefallen.
Aber: Während der Dperession war ich auch nicht in der Lage, mich angemessen um meine Kinder zu kümmern - was die Dperession nicht wirklich besser gemacht hat. Es gibt da also auch so eine Art Rückkopplung, die ich mit den Medis natürlich unterbreche.

Und dann noch was zu dem: "Mein Mann ist nicht "mein" Mann und mein Kind ist nicht "mein" Kind."
Ich sehe mich schon in einer Art Verantwortung für die Menschn um mich herum, vor allem für die Menschen, die ich liebe. Wenn mein Kind z.B. im KKH im Wachkoma liegt und sich vor Schmerzen krümmt, würde ich ihm notfalls auch starke Schmerzmittel geben lassen - auch wenn das Kind (oder der Mann, ich habe nur keinen, deswegen fällt das Beispiel für mich weg) sich dazu nicht selber äußern kann. Ich möchte meinen Lieben Schmerzen und Leid ersparen. Ich finde nicht, daß man sich da aus der Verantwortung stehlen kann indem man sagt: "Kümmere Dich doch selber!" oder "Die Entscheidung mußt Du selber treffen!" Ein Kind und/oder ein entscheidungsunfähiger Mensch braucht Hilfe und Unterstützung, und notfalls muß ich dann eine Entscheidung für jemand anders treffen - UND die Verantwortung dafür tragen, wenn es schief geht.
Vielleicht sagt Fumi in 20 Jahren zu mir: "Mama, das war eine blöde Idee!" Dann werde ich mit diesem Vorwurf leben müssen. Das ist das Risiko, das ich eingehe, aber ich gehe es aus Liebe ein. Ich stehle mich nicht aus der Verantwortung - und Verantwortung tragen heißt manchmal auch, einen über die Rübe zu kriegen, wenn es schiefgeht. Aber damit nehme ich Fumi ja etwas ab, das sie meines Erachtens im Moment einfach nicht komplett tragen kann.
(Ja, Fumi trägt aufgrund ihres Alters ein großes Stück der Verantwortung selber; aber ich hätte die Einnahme der Medis komplett verbieten können, ich hätte ihr verschweigen können, daß es die Möglichkeit gibt, oder ich hätte einfach sagen können: "Friß oder stirb!". Ich habe ihr ein Stück der Verantwortung gegeben, aber nicht mehr, als sie tragen kann - in meinen Augen - also noch eine Entscheidung, eine Abschätzung die ich treffen mußte für jemand anders, und die mir das Leben schwer gemacht hat.)

Und dann noch:
Ich habe mir sehr viele Gedanken zu dem Thema gemacht und mir - mit Verlaub - den Hintern aufgerissen auf der Suche nach der optimalen Lösung für UNS. (Ah, noch ein Thema: Ja, man SOLLTE die Familie mit einbeziehen und das wird unzureichend gemacht.) Aber ich kann das auch, intellektuell und emotional. Kann das jede Mutter, jeder Vater?
(Exkurs: Mein Ex hat sich komplett aus der Chose rausdividiert, ich stehe alleine da mit meiner Entscheidung. Ich finde ja, er hat es sich leicht gemacht: Er wird sich zumindest wegen der ADS-Diagnose und -Therapie nie vor Fumi verantworten müssen. Er kann sagen: "Ich hätte das anders gemacht!" Ah, wie sehne ich mich nach dieser Option.)
Ich z.B. bin völlig überfordet, wenn es um Autos geht. Ich habe keines, aus gutem Grund, aber WENN ich dringend eines bräuchte, hätte ich das "ich will das gar nicht wissen müssen"-Dilemma. Ich würde mir eine Werksatt meines Vertrauens suchen, das Auto hin und wieder da abliefern und mich darauf verlassen, daß die das schon richtig machen.
Es gibt sicher viele Eltern, die mit diesem AD(H)S-oder-nicht-oder-was-Zeug so überfordert sind wie ich mit dem Auto. Sie gehen mit dem Kind zum KiA ihres Vertrauens und sagen: "Mach heile!" Kann man diesen Eltern einen Vorwurf machen? Ich finde, das kann man nicht, zumindest nicht generell und pauschel.

Ich bin also - aus reinem Eigennutz - durchaus für eine strengere Überwachung von Methylphenidat und meinethalben auch Antidepressiva. Damit ich eben nicht dauernd das Gefühl habe, ich müßte Fumi ein Schild umhängen, auf dem steht: "Fumi war beim KiA, der eine Ausbildung als Kinderarzt UND als Kinder- und Jugendpsychologe hat, ich war mit ihr bei der Kinder- und Jugendpsychiaterin und bei der Uni-Klink und beim Einzelfallhelfer - reicht das, um die Gabe von Methyphenidat zu rechtfertigen?" Solange es KiÄ gibt, die ohne Zusatzausbildung mal eben einem Kind Methylphenidat verschreiben, fühle ich diesen Rechtfertigungsdruck. Eine restriktivere Ausgabe der Medis würde diesen Rechtfertigungsdruck von mir nehmen. Das wäre schon nett ;-).

Aber es bleibt für MICH, daß ICH meistens mit meiner Entscheidung für die Medis gut schlafen kann.

So, Fumi will endlich den Balkon fertig aufräumen und braucht meine Hilfe. Ich habe sicher wieder nicht jeden einzelnen meiner Gedankenfäden verfolgt und aufgeschrieben. Sie sind etwas wirr und unsortiert und ploppen auch manchmal einfach raus (was man meinem Posting auch ansieht, fürchte ich *schäm*). Vielleicht könnt Ihr trotzdem was für Euch da rausziehen.

Gruß,
Elisabeth.

 
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